Die Interim Managerin und Leadership Coach im Interview
Nadine Dreier: "Echte Führung entsteht im Gespräch, nicht in der Tool-Landschaft"

| Redaktion 
| 19.06.2025

Wenn jemand den Begriff "Karrierewechsel" neu definiert hat, dann Nadine Dreier. Impulsgeberin mit Haltung – klar, nah, ohne Schleife. Eine Geschichte, die zeigt, dass echte Veränderung möglich ist, wenn man bereit ist, alles auf den Prüfstand zu stellen. Vor anderthalb Jahren stand Nadine Dreier an einem Wendepunkt. Keine Flucht. Keine Krise. Sondern eine bewusste Entscheidung – gegen Stillstand und für Klarheit. Im Interview mit LEADERSNET spricht sie über Systemfehler in der Führung, die Kraft von Klarheit – und warum echte Veränderung oft leise beginnt.

Nadine Dreier tauschte die Großstadt gegen die Stille Nordschwedens, das Karriere-Drehkreuz gegen echte Wirksamkeit – und pendelt seither zwischen Führungskonferenzen und Frostgraden. Mit über 20 Jahren Erfahrung in Konzernstrukturen, Mittelstand und Beratung kennt Dreier beide Seiten: die der Getriebenen – und die der Entscheidenden. Als Vertriebsführungskraft und Teamleiterin weiß sie, wie Nähe funktioniert – auch auf Distanz. Und wie Führung kippt, wenn sie zur Fassade wird.

Auf LinkedIn trifft sie mit ihren unbequemen Beiträgen zu Fachkräftemangel, Altersdiversität, toxischer Führung und Kulturversagen regelmäßig einen Nerv – tausendfach. Ihr Ton: echt. nah. kompromisslos ehrlich. Ihr Antrieb: Menschen wieder mit sich selbst, ihrem Potenzial und ihrer Stimme zu verbinden.

LEADERSNET: Frau Dreier, Sie haben die Großstadt gegen die schwedische Wildnis getauscht – ein radikaler Schritt, den viele nur träumen. Was war der berühmte "Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte"? Gibt es einen Moment, den Sie rückblickend als Wendepunkt bezeichnen würden?

Nadine Dreier: Ob es den einen Moment gab? Ja. Der kam nicht mit einem Knall, sondern mit einem ganz stillen Satz. "Bitte passen Sie sich an." Das war der Moment, an dem ich gemerkt hab: Ich bin hier nicht falsch, aber ich bin hier fertig. Ich war lange in einem Umfeld, das Haltung in PowerPoints feierte, aber im Alltag abwehrte. Wer kritisch denkt, wird zur Störung. Wer zu viel Klarheit bringt, zur Gefahr. Ich habe vieles ausgehalten. Aber ich wusste irgendwann: Ich verliere mich, wenn ich bleibe. Nicht, weil ich schwach bin, sondern weil ich mich ständig kleiner machen müsste, um reinzupassen. Ich habe nicht Schluss gemacht mit dem Job. Ich habe Schluss gemacht mit dem Stillhalten. Ich habe Klarheit gewählt. Nicht als Schlagwort, sondern als Entscheidung. Heute weiß ich: Es war kein radikaler Schritt – es war der erste echte.

LEADERSNET: Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung fühlen sich 40 % der Beschäftigten in Deutschland "innerlich gekündigt". Was läuft Ihrer Meinung nach grundlegend falsch in unserer Unternehmenskultur – und wie kann echte Führung hier gegensteuern?

Nadine Dreier: 40 % innerlich gekündigt? Ganz ehrlich: Mich wundert, dass es nicht mehr sind. Und die anderen 60 %? Die funktionieren weiter – still, angepasst, mit Dauer-Durchzug. Wir haben eine Arbeitskultur, die Menschen einstellt, weil sie funktionieren und sich dann wundert, wenn sie irgendwann abstumpfen. Führung ist oft Status – kein echtes Verantwortungsgefühl. Es wird geliked, gelabert, gebrainstormt, aber kaum jemand führt wirklich. Echte Führung ist unbequem. Die hört nicht auf, wenn’s knirscht. Die steht da, wo andere weggucken. Die sagt: "Ich seh dich. Und ich halt das mit dir aus." Das ist nicht Wohlfühlzone. Das ist Verbindung, Verantwortung, Entscheidung. Wer das nicht kann, sollte kein Team führen – sondern Excel-Tabellen. Und was braucht’s, um gegenzusteuern? Mut, erstmal gar nichts zu machen. Nicht sofort lösen. Sondern erstmal zuhören. Echte Führung entsteht im Gespräch, nicht in der Tool-Landschaft. Weniger Richtlinien, mehr Rückgrat. Weniger Prozesse, mehr Präsenz. Die Menschen sind nicht das Problem. Die Art, wie wir mit ihnen umgehen, das ist der Hebel.

LEADERSNET: Ihr LinkedIn-Post "Willkommen im Widerspruchskoma" wurde hundertfach geteilt. Warum, glauben Sie, trifft das Thema Altersdiskriminierung und Erfahrung als "Störfaktor" so einen Nerv? Haben Sie eine persönliche Anekdote dazu?

Nadine Dreier: Weil es stimmt. Weil viele es spüren, aber kaum jemand es laut sagt. Wir reden ständig von Diversität, aber Altersdiversität ist die letzte, die wirklich gelebt wird. Erfahrung wird gefeiert, solange sie nicht widerspricht. Sobald jemand Klartext redet, heißt es plötzlich: "zu viel Erfahrung, zu wenig Anpassung." Ich habe selbst erlebt, wie plötzlich die Frage im Raum stand: "Passt du noch rein?" Nicht fachlich. Nicht menschlich. Sondern… strukturell. Zu direkt, zu kritisch, zu unbequem. Und damit: nicht mehr willkommen. Das war mein persönlicher Aha-Moment: Es geht hier nicht um Alter. Es geht um Haltung. Und die wird schnell aussortiert, wenn sie nicht gefällig ist. Wir sagen: Bringt euch ein, aber bitte nicht zu laut. Denkt kritisch, aber bitte nicht quer. Das ist kein Widerspruch. Das ist ein Systemfehler. Ich habe Teams begleitet, in denen Gen Z und Boomer nebeneinandersaßen und ja, es hat geknallt. Aber da war Reibung. Da war Entwicklung. Da war Leben. Altersdiversität ist kein Risiko. Sie ist Reibung mit Potenzial. Man muss sie nur aushalten können.

LEADERSNET: Sie fordern: "Führt eine Altersquote ein, wenn ihr Diversität wirklich meint." Wie sähe für Sie ein zukunftsfähiges Diversity-Konzept aus, das nicht nur auf Plakaten, sondern im Alltag wirkt?

Nadine Dreier: Diversity ist kein Imageprojekt. Es ist der Moment, in dem jemand laut widerspricht und nicht rausfliegt, sondern gehört wird. Ein echtes Diversity-Konzept ist unbequem. Weil es Reibung zulässt. Perspektiven aushält. Und Widerspruch nicht weglächelt, sondern nutzt. Für mich heißt das ganz konkret: Teams mischen, nicht nur nach Alter oder Herkunft, sondern nach Haltung. Entscheidungsräume aufbrechen. Weg vom "Alt führt, Jung lernt". Erfahrung nutzen. Ältere nicht nur dulden, sondern einsetzen: als Mentoren, Brückenbauer, Korrektiv. Und ja, wenn wir über Diversity reden, dann reden wir auch über Alter. Erfahrung ist kein Störfaktor. Sie ist das, was fehlt, wenn Projekte gegen die Wand fahren und keiner mehr den Kompass in der Hand hält. Vielfalt ist erst dann echt, wenn sie nicht perfekt harmoniert, sondern trotzdem gemeinsam liefert. Diversity braucht keine hübschen Plakate. Es braucht Klarheit, Konfliktfähigkeit und den Mut, Teams zu führen, die nicht auf Autopiloten laufen.

LEADERSNET: Laut Gallup-Studie kostet innere Kündigung die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 120 Milliarden Euro. Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Hebel, um Mitarbeiterbindung und echte Wertschätzung wiederzubeleben?

Nadine Dreier: Erstmal: Wir reden hier nicht über Benefits oder Obstkörbe. Wir reden über Führung. Und die fängt für mich nicht beim Gehalt an, sondern bei Haltung. 120 Milliarden Euro, nicht, weil Menschen faul sind, sondern weil sie innerlich längst gegangen sind. Weil man sie einstellt, um zu funktionieren und sich dann wundert, wenn sie auf Durchzug schalten. Nicht für Fehler, sondern für Gleichgültigkeit. Für Meetings ohne Haltung, Führung ohne Verbindung, Arbeit ohne Sinn. Wer Menschen binden will, muss aufhören, sie zu behandeln wie Funktionen. Wer will, dass sie wieder lebendig werden, muss fragen: "Was brauchst du, nicht nur als Mitarbeitende*r, sondern als Mensch?" Innere Kündigung ist nicht das Problem. Sie ist das Symptom. Das Problem ist Führung, die sich verabschiedet hat, lange bevor der Mensch es tut.

LEADERSNET: Ein Sprichwort sagt: "Der Fisch stinkt vom Kopf her." Wie viel Systemversagen liegt tatsächlich an Vorständen, die in Talkshows über Transformation sprechen, aber nie Transformation führen mussten?

Nadine Dreier: Zu viel. Transformation ist kein Panel-Talk. Kein Kulturleitbild. Kein Agilitäts-Workshop mit Muffins. Transformation bedeutet: Macht abgeben. Entscheidungen neu verteilen. Verantwortung aushalten. Und genau das passiert nicht, weil viele Vorstände lieber über Wandel sprechen, als ihn selbst zu leben. Ich habe Vorstände erlebt, die Transformation wollten, aber bitte nur bis zur Tür des eigenen Büros. Kultur beginnt oben. Immer. Wenn da keine Haltung ist, kein echtes Warum, kein Mut zur Selbstkritik, dann kannst du unten so viele Werteposter aufhängen, wie du willst. Es wird nicht halten. Führung ist Vorbild, oder sie ist Fake. Und irgendwann merken die Leute, was echt ist. Und was nur sagt, es wäre es.

LEADERSNET: Sie leben im Wald – arbeiten aber mitten im Business. Was hat die Stille des Nordens mit Ihrer Klarheit gemacht? Und wie verändert Natur die Art, wie man Arbeit überhaupt denkt?

Nadine Dreier: Der Wald ist kein Rückzugsort, er ist Kontrast. Zu Tempo. Zu Lärm. Zu Dauerbeschallung mit Führungssprüchen. Ich lebe in Nordschweden, da wo der Winter lang ist, der Sommer hell und die Stille keine Pause-Taste, sondern Alltag. Da, wo du mit Kälte, Dunkelheit, Einsamkeit und Mücken klarkommen musst. Kein Filter. Keine Ausrede. Kein Bullshit. Hier gibt’s mehr Elche als Meetings, aber mein Laptop hat trotzdem WLAN. Und genau das hat was mit mir gemacht. Die Natur entschleunigt nicht, sie zwingt dich, dich zu entschleunigen. Sie stellt keine Fragen, sie gibt Antworten. Und sie macht dich ehrlich, ob du willst oder nicht. Ich arbeite heute fokussierter, klarer, leiser. Nicht weil ich aus dem System raus bin, sondern weil ich mich im System nicht mehr verliere. Der Wald hat mich nicht gerettet, aber er hat mir jeden Spiegel gezeigt, den ich vorher ignoriert habe.

Walther Kirschner
Interessantes Interview.
Kann ich gut nachvollziehen, dass so eine Umgebung in der Natur freier macht und Fokussierung fördert. Wesentliches kann da greifbarer werden. Die eigene Kreativität und Produktivität wird anders, besser.

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