Die Tyrannei der letzten Minute
So entschärfen Sie den Stress zum Jahresendspurt

Besinnlichkeit sieht anders aus: Kurz vor Weihnachten kämpfen Führungskräfte und Mitarbeiter gegen eine Flut spontaner Aufgaben und knapper Deadlines. Die Hektik im Dezember ist jedoch selten ein Zufall. Sie ist oft das Symptom eines strukturellen Problems, das die betroffenen Organisationen jährlich in den operativen Notstand treibt.

Der Executive Coach und Rednerin Eikenberg, die als ehemalige Partnerin des globalen Personalberatungsunternehmens Hewitt Associates (inzwischen Teil von Aon) Konzernspitzen berät, kennt das Phänomen. Führungskräfte reagierten oft überrascht auf die Nähe des Jahresendes, während die Mitarbeiter in Hektik verfielen, so ihre Beobachtung.

Jedes Jahr im Dezember sehen sich viele Unternehmen mit einem exponentiell steigenden Bilanzierungsdruck konfrontiert. Die Deadlines bis zum Jahresende sind nicht nur knapp, die Anfragen sind in ihrer Komplexität oft überfordernd und reichen über das Tagesgeschäft hinaus. Typischerweise umfasst das Aufkommen folgende Bereiche:

  • Updates im Haushaltsplan und Ausgabenberichte
  • Verhandlungen zu Boni und Gehalt
  • Detaillierte Berichte über Kundenbindung und -abwanderung
  • Umfassende Bestands- und Lieferkettenbewertungen

Überhöhte Dringlichkeitskultur

Diese hektische Betriebsamkeit zum Jahresende ist zumeist ein Indikator für eine überhöhte Dringlichkeitskultur im Unternehmen oder für Schwierigkeiten des Managements, Aufgaben rechtzeitig und adäquat zu priorisieren, wie die Expertin im Harvard Business Manager verrät. Obwohl es leichtfällt, die Verantwortung beim Vorgesetzten zu sehen, wird die Alarmbereitschaft der obersten Führungsebene schnell zum Notfall für die gesamte Belegschaft.

Die Betroffenen sind daher gezwungen, von der passiven Haltung zur aktiven Antizipation überzugehen. Forschungen der Columbia Medical School legen nahe, dass das menschliche Gehirn Vergangenes verdrängt, um Platz für tägliche Informationen zu schaffen. Vorgesetzte laden Aufgaben also nicht immer böswillig, sondern aus rein kognitiver Verdrängung in letzter Minute ab. Hinzu kommt die gestiegene Fluktuation: Viele Führungskräfte erleben den Jahresendspurt in ihrer aktuellen Funktion womöglich zum ersten Mal.

Disziplin als Selbstschutz

Um die Eskalation zu entschärfen, bleibt den Mitarbeitern nur die Wahl der proaktiven Verteidigung.

1. Vorausschauende Verifikation: Statt auf die Last-Minute-Anfrage zu warten, empfiehlt sich die gezielte Nachfrage – fokussiert auf die Bedürfnisse der Führungsebene, nicht auf die eigenen. Es ist ratsam, Vorgesetzte mit spezifischen Erinnerungen an fällige Prozesse zu konfrontieren, etwa: „Die Leistungsbeurteilungen waren letztes Jahr am 15. Dezember fällig. Hat sich der Zeitplan für die Leitfäden geändert?“ Dieses Vorgehen gilt als hilfreich und nicht als aufdringlich.

2. Grenzen setzen und Urlaub einfordern: Die Wahrung der Work-Life-Balance steht am Jahresende besonders unter Druck. Eine Pew-Studie aus dem Jahr 2023 zeigte, dass viele US-Amerikaner zögern, ihre gesamten Urlaubstage in Anspruch zu nehmen, um nicht in Rückstand zu geraten. Um das persönliche Wohlbefinden nicht der Unternehmenslogik unterzuordnen, ist Grenzmanagement unerlässlich.

Eine klare und verbindliche Kommunikation der Auszeit ist die Basis: „Ich werde vom 18. Dezember bis zum 3. Januar nicht erreichbar sein. Wenn vor Jahresende noch etwas benötigt wird, bitte ich um zeitige Information.“ Wer die eigenen Grenzen klar kommuniziert und einhält, setzt nicht nur ein wichtiges Zeichen, sondern übt auch die Schlüsselkompetenz Nein-Sagen.

3. Erwartungen verifizieren: Die meisten Manager sind keine Meister der präzisen Kommunikation. Ein Mitarbeiter ist daher gut beraten, die genauen Erwartungen an eine Aufgabe zu klären, bevor er sich in stundenlange Detailarbeit stürzt. Oftmals entpuppt sich der vermeintlich dringende, umfassende Powerpoint-Auftrag bei näherer Nachfrage als die simple Aktualisierung eines bestehenden Berichts. Die Pflicht zur Verifizierung hilft, das eigentliche Problem zu verstehen und unnötigen Aufwand zu vermeiden.

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