Die CEO der Weleda AG im Interview
Tina Müller: "Transformation ist kein Selbstzweck, sondern immer ein Mittel, um relevant zu bleiben"

Tina Müller zählt zu den bekanntesten Managerinnen Deutschlands. Nach Stationen im Vorstand von Opel und als CEO der Douglas Group, wo sie Europas größte Beauty- und Health-Plattform maßgeblich prägte, steht sie seit Oktober 2023 an der Spitze des Traditionsunternehmens Weleda. Im Interview mit LEADERSNET spricht Tina Müller über Herausforderungen, Chancen und ihre Vision für die Zukunft von Weleda.

Mit ihrer langjährigen Erfahrung in der internationalen Kosmetik- und Konsumgüterbranche sowie ihrem Ruf als Transformations- und Markenexpertin übernimmt Tina Müller die Führung eines Unternehmens, das für nachhaltige Naturkosmetik und anthroposophische Arzneimittel weltweit bekannt ist. 

LEADERSNET: Sie kamen 2023 zu Weleda – ein Unternehmen, das weltweit in 50 Ländern aktiv ist, aber auch mit sinkenden Umsätzen und wachsendem Wettbewerb zu kämpfen hat. Was war Ihre erste Diagnose – und was Ihre erste Maßnahme?

Tina Müller: Das Unternehmen war zu dem Zeitpunkt tatsächlich in einer schwierigen Phase, es war eine gewisse Verunsicherung zu spüren. Mir wurde in den Gesprächen vorab bewusst: Es brauchte Klarheit über den künftigen Kurs, Verantwortung und Tempo, um dieses Unternehmen mit dieser starken Marke widerstandsfähig zu machen und in eine erfolgreiche Zukunft zu führen. Meine erste Maßnahme war, die entsprechenden Strukturen zu schaffen. Wir haben Weleda neu organisiert, mit zwei klar fokussierten Geschäftseinheiten: Kosmetik und Pharma. Dadurch sind wir schneller geworden, effizienter. Parallel dazu haben wir eine neue Strategie aufgesetzt. Unter dem Leitgedanken "Wachstum mit Verantwortung" modernisieren wir das gesamte Unternehmen. Wir machen Weleda jünger, internationaler, digitaler, hochwertiger. Unsere Strategie zahlt sich aus: Wir haben den Turn-around schnell geschafft und sind 2024 dynamisch und profitabel gewachsen. Mit 456 Mio. Euro haben wir den höchsten Umsatz in der Geschichte des Unternehmens erzielt. Das Entscheidende ist, dass alle mitziehen. Der gemeinsame Spirit ist die Grundlage für die Erneuerung von Weleda.

LEADERSNET: Ein beeindruckender Turnaround in kürzester Zeit. Weleda wurde 1921 von Rudolf Steiner mitbegründet und ist damit über 100 Jahre alt – ein beeindruckendes Alter für ein Kosmetikunternehmen. Der Naturkosmetikmarkt wächst jährlich um etwa 5–7 % und soll bis 2028 ein Volumen von 25 Milliarden US-Dollar erreichen. Wie balancieren Sie das Erbe der anthroposophischen Tradition mit den Anforderungen eines modernen, wachsenden Marktes?

Tina Müller: Für mich war von Anfang an klar: Dieses beeindruckende Erbe bleibt zentral für alles, was wir tun, aber wir müssen es in die Gegenwart übersetzen, mit Klarheit und Ambition. Deshalb haben wir auch die Marke deutlich modernisiert: Wir haben unser Erscheinungsbild geschärft, das klassische Weleda-Logo zeitgemäß überarbeitet und unseren gesamten Markenauftritt in die Neuzeit überführt. Auf den ersten Blick ist sichtbar: Weleda ist auf der Höhe der Zeit. Und das gilt auch für unseren Purpose. Immer mehr Menschen suchen nach natürlichen Wegen, Gesundheit, Schönheit und Vitalität zu erhalten – bewusst, selbstbestimmt und nachhaltig.

LEADERSNET: Sie sprechen von Modernisierung und Zeitgemäßheit – und haben sich zugleich einen äußerst ambitionierten Leitsatz auf die Fahnen geschrieben: "Wachstum mit Verantwortung". Bis 2030 wollen Sie den Umsatz verdoppeln. In einer Ära, in der Greenwashing an jeder Ecke lauert und Konsumenten zunehmend skeptisch werden, ist das ein gewagtes Versprechen. Wie gelingt dieser Spagat zwischen rasantem Wachstum und authentischer Nachhaltigkeit in einem Markt, der von Wettbewerbern nur so wimmelt?

Tina Müller: Wachstum mit Verantwortung bringt die Philosophie von Weleda auf den Punkt: Wirtschaften im Einklang mit Mensch und Natur. Dieser Ansatz zieht sich durch unsere gesamte Wertschöpfungskette und entspricht genau meinem Verständnis von unternehmerischem Handeln. Wir müssen unsere natürlichen Ressourcen nicht nur schonen, sondern stärken – für die kommenden Generationen. Wir entwickeln Naturkosmetik und Arzneimittel auf Basis natürlicher Rohstoffe. Sie stammen zu weiten Teilen aus unseren sechs eigenen, biodynamischen Gärten. Was wir nicht selbst anbauen, beziehen wir von langjährigen Partnern, die gleich hohe Nachhaltigkeitsstandards haben wie Weleda. Mehr als 80 Prozent unserer Rohstoffe sind biologisch oder biodynamisch zertifiziert. Wir setzen uns ein für den Schutz unserer Böden und für Biodiversität. Wir geben etwas zurück.

LEADERSNET: Unter Ihrer Führung bei Douglas haben Sie die größte Beauty- und Health-Plattform Europas mit einem Umsatz von über 4 Milliarden Euro geprägt. Welche Lehren aus dieser Transformationsphase nehmen Sie mit zu Weleda, wo die Zielgruppe zunehmend Wert auf ethische und ökologische Verantwortung legt?

Tina Müller: Bei Douglas war es besonders wichtig, die Marke konsequent auf die Kund:innen auszurichten und viel Kraft in eine klare Digital-Strategie zu stecken. Diese Erfahrung nehme ich mit, auch wenn das Umfeld und die Rahmenbedingungen bei Weleda völlig andere sind. Bei Douglas ging es um Skalierung, Geschwindigkeit und Plattformdenken. Bei Weleda geht es um Tiefe, Glaubwürdigkeit und Leidenschaft für eine einmalige Marke. Ich nutze mein Wissen aus dem Konzernumfeld, und verbinde es mit der besonderen Kultur und den Werten von Weleda. Transformation ist kein Selbstzweck, sondern immer ein Mittel, um relevant zu bleiben. Und Relevanz bedeutet bei Weleda nachhaltig und sinnstiftend zu sein. Wir alle hier wollen einen Beitrag zu guten, gesunden Lebensbedingungen leisten.

LEADERSNET: Ihre Zeit im Opel-Vorstand war geprägt von der Automobilindustrie, die für ihre Komplexität und Wettbewerbsintensität bekannt ist. Wie nutzen Sie diese Erfahrungen, um Weleda in einem globalen Kosmetikmarkt mit einem Volumen von über 580 Milliarden US-Dollar strategisch zu positionieren?

Tina Müller: Die Automobilbranche ist ein globaler Hochdruckkessel mit enormem Margendruck, geprägt vom intensiven Wettbewerb bei technischen Standards und möglichst reibungslos funktionierenden internationalen Lieferketten. Natürlich ist das eine wertvolle Erfahrung, gerade weil es auch bei uns darum geht, Weleda international noch schlagkräftiger aufzustellen. Die klare Fokussierung ist in beiden Branchen entscheidend. Deshalb haben wir beispielsweise im Pharmabereich sogenannte Heroe-Produkte definiert, die wir klar priorisieren. Auch die Trennung der Geschäftseinheiten Kosmetik und Pharma folgen dem Prinzip der Klarheit und Konzentration. Mein Anspruch ist es, Exzellenz in der Markenführung und in den Prozessen zu verankern.

LEADERSNET: Der deutsche Naturkosmetikmarkt ist hart umkämpft – von dm's Alverde über L’Oréals Garnier Bio bis hin zu Start-ups wie Sante. Weleda hat dabei den Vorteil der Tradition, aber auch das Risiko, als "verstaubt" wahrgenommen zu werden. Welche strategischen Weichen stellen Sie, um Weleda für die Generation Z und Alpha relevant zu halten?

Tina Müller: Unser Weg ist klar: Wir verjüngen Weleda, ohne unsere Identität zu verlieren. Tradition ist kein Stigma, sondern ein starkes Fundament. Entscheidend ist das richtige Storytelling auf den richtigen Kanälen. Wir investieren gezielt in digitale Kanäle und sind dort präsent, wo sich die junge Zielgruppe bewegt – zum Beispiel auf TikTok. In Deutschland, den USA, Großbritannien und Spanien haben wir jüngst eigene TikTok-Shops gestartet, das ist erfolgreich angelaufen. Gleichzeitig geht es nicht nur um Reichweite, sondern um Relevanz. Ein Beispiel: Mit Bene Schulz von den Elevator Boys haben wir erstmals ein sehr bekanntes Kampagnengesicht aus der Generation Z für uns gewonnen.

LEADERSNET: In Ihrer Zeit bei Opel haben Sie die Transformation eines Traditionsunternehmens miterlebt. Henry Ford teilte seinen Kunden mit, dass sie "schnellere Pferde" wollen. Welche "schnelleren Pferde" hören Sie heute von Weleda-Kund:innen, und wie übersetzen Sie diese in echte Innovationen?

Tina Müller: Unsere Kund:innen wollen Wirksamkeit, aber bitte natürlich. Sie wollen Nachhaltigkeit, aber ohne Verzicht. Sie wollen Inspiration, aber keine Belehrung. Das sind die "schnelleren Pferde" unserer Zeit. Deshalb setzen wir auf innovative, hochwirksame Produkte, die genau auf diese Bedürfnisse einzahlen. Nehmen Sie unsere neue Serie Cell Longevity: natürliche Wirkstoffe, statt synthetische Anti-Aging-Mittel. Wir entwickeln Produkte, die echten Mehrwert bieten und Antworten auf die Anforderungen unserer Zeit geben.

LEADERSNET: Von natürlichen Wirkstoffen zu künstlicher Intelligenz: Die Digitalisierung hat die Beauty-Branche von Grund auf revolutioniert. Augmented-Reality-Filter lassen Kund:innen Lippenstifte virtuell testen, KI-Algorithmen analysieren Hauttypen präziser als jeder Dermatologe, und Chatbots beraten rund um die Uhr. Weleda aber steht für etwas ganz anderes – für Erdverbundenheit, für das Authentische, für hundertjährige Tradition. Wie bringen Sie diese scheinbar unvereinbaren Welten zusammen: das Silicon Valley und den biodynamischen Garten, ohne dass Ihre Markenidentität in diesem Spannungsfeld zerrieben wird?

Tina Müller: Digitalisierung, KI, Natürlichkeit und Tradition schließen sich nicht aus. Im Gegenteil: Sie ergänzen einander. Menschen suchen heute Orientierung, Vertrauen, Verlässlichkeit und Menschlichkeit. Genau das finden sie bei Weleda, womöglich stärker als bei anderen Marken. Zugleich nutzen wir die Möglichkeiten der neuen Technologien. KI und Digitalisierung durchdringen auch bei Weleda mehr und mehr die Geschäftsprozesse. Wir setzen digitale Werkzeuge überall dort ein, wo es sinnvoll ist: in der Forschung, in der Kundenkommunikation, im E-Commerce, auf Social Media. Wir bleiben uns dennoch treu. Weleda ist seit über 100 Jahren ein Sustainable Native, geprägt von Verantwortung für Mensch und Natur. Technologie stärkt unser Fundament, ohne unseren Kern infrage zu stellen. Digitalisierung muss der Marke dienen, nicht umgekehrt.

Kommentar veröffentlichen

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV