Reinhard Mey, Natasha Bedingfield, Alphaville etc.
Wie TikTok, Serien und Streaming Oldies zu neuen Hits machen

| Natalie Oberhollenzer 
| 18.11.2025

Ein viraler Clip oder eine prägnante Serienszene – mehr braucht es oft nicht, und ein Jahrzehnte alter Song stürmt erneut die Charts. Streaming macht Archivmusik jederzeit verfügbar, TikTok und Filme liefern die Bühne – Labels helfen mit gezielten Kampagnen nach. So zeigt auch das jüngste Comeback von Reinhard Mey: Der Soundtrack der Gegenwart ist älter als man denkt.

Reinhard Mey ist zurück in den deutschen Charts. Ausgelöst durch die Netflix-Doku "Babo – Die Haftbefehl-Story" - dort singt der Rapper in einer Szene die Nummer "In meinem Garten" mit. Und genau dieses Lied aus dem Jahr 1970 findet den Weg zurück in die Hitlisten. Mey gelingt damit der bislang höchste Charterfolg seiner Karriere. Zwischen Erstveröffentlichung und Chartdebüt liegen rund 55 Jahre, das ist ein Rekord für einen deutschsprachigen Titel. Mey bedankt sich denn auch auf seiner Internetseite bei Haftbefehl. Solche Comebacks passieren inzwischen regelmäßig: Songs, die lange im Katalog schlummerten, tauchen in viralen Videos, Serien und Filmen auf und werden plötzlich wieder allgegenwärtig.

Die Mechanik dahinter ist simpel, ihre Wirkung enorm: Spotify, Apple Music & Co. halten die Archive offen, und jede Abspielung zählt für die Charts. Entdeckt werden die Stücke jedoch häufig anderswo – auf TikTok, in Netflix-Produktionen oder im Kino. Dort klaut sich die Generation Z den Backkatalog ihrer Eltern: Ein Sound-Snippet, eine Tanz-Challenge, und schon konkurriert ein 20- oder 40-Jahre alter Track mit den Neuveröffentlichungen der Woche.

Demokratisierung oder geschickt platzierte Aktion?

Besonders augenfällig wurde das beim Popsong "Unwritten" von Natasha Bedingfield: Durch die Romcom "Anyone But You" feierte der 2004er-Titel ein Revival und wurde auf TikTok zum Dauerbrenner. Dasselbe Muster zeigt sich quer durch Genres und Jahrzehnte – von Police bis Alphaville. TikTok spricht in diesem Zusammenhang gern von "Demokratisierung": Die Community entscheide, welcher Song Erfolg habe, heißt es. "Wir selber können das gar nicht vorhersehen oder bestimmen", sagt TikTok-Musikchefin Charlotte Stahl zu NDR: "Jeder Song hat erstmal dieselbe Chance, erfolgreich zu sein."

Doch so ganz dem Zufall überlassen Labels die Renaissance des Repertoires nicht. Das Auswerten alter Kataloge ist nämlich zur Strategie geworden: Kampagnen, Influencer-Briefings und geschickt platzierte Trends sorgen dafür, dass vergessene Titel wieder ins Gespräch kommen – nicht immer als Werbung gekennzeichnet, selten als Zufall erkennbar. Die Grenze zwischen echtem Hype und angestoßenem Momentum verläuft fließend.

Fleetwood Mac, Sophie Ellis-Bextor, Imogen Heap

Wie stark diese Dynamik sein kann, zeigte 2020 ein Mann auf einem Longboard: Nathan Apodaca filmt sich mit Cranberry-Saft und "good vibes" – im Hintergrund "Dreams" von Fleetwood Mac (1977). Das Video geht viral, der Song gleich mit. Jüngst katapultierte "Saltburn" die Single "Murder on the Dancefloor" von Sophie Ellis-Bextor mehr als zwei Jahrzehnte nach Veröffentlichung zurück in die UK-Top-10. Auch die britische Indie-Künstlerin Imogen Heap erlebte, dass frühe, damals unscheinbare Songs plötzlich millionenfach gesucht und gestreamt wurden.

Serien liefern die größten Hebel: In "Stranger Things" rettet "Running Up That Hill" von Kate Bush buchstäblich eine Figur – und erreicht fast 30 Jahre nach Veröffentlichung Platz 3 der Billboard Hot 100. Selbst die Künstlerin war vom Ausmaß überrascht: "Es ist einfach außergewöhnlich", sagte Kate Bush damals in einem BBC-Interview über den späten Erfolg des Songs. "Ich hatte mir vorgestellt, dass der Track etwas Aufmerksamkeit bekommen würde, aber nichts in dieser Größenordnung."

Im Netflix-Knaller "Wednesday" wiederum tanzt die Titelheldin zu "Goo Goo Muck" von The Cramps; die täglichen Streams des 1981er-Tracks schießen sogleich in die Höhe.

Dass dies mehr ist als eine Reihe hübscher Anekdoten, zeigen die Zahlen: In den USA stammen inzwischen über zwei Drittel der gehörten Songs aus früheren Jahrzehnten, Tendenz steigend. Auch in Deutschland tauchen immer wieder längst vergessene Titel in den Hitlisten auf. Wer heute veröffentlicht, konkurriert nicht nur mit den Releases der Woche, sondern mit der gesamten Popgeschichte.

Letztendlich trifft die permanente Verfügbarkeit auf Erzählmomente: Streaming holt die Archive ins Jetzt, Social-Feeds und Bewegtbild geben den Liedern neue Kontexte. Manchmal genügt ein Filmkuss, eine Serienszene oder ein 15-Sekunden-Clip – und ein Stück, das jahrelang unbeachtet blieb, wird zum Gegenwartshit.

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