Arbeitsmarkt vor Zerreißprobe
Frührente der Babyboomer treibt Fachkräftemangel in neue Dimensionen

| Redaktion 
| 15.06.2025

Trotz steigender Lebenserwartung zieht sich fast jeder zweite Babyboomer vorzeitig aus dem Berufsleben zurück. Die Folgen sind dramatisch: Der wirtschaftliche Schaden durch den wachsenden Fachkräftemangel spitzt sich weiter zu. Eine neue IW-Studie zeigt, warum die Rente mit 67 längst zur Illusion geworden ist.

Der demografische Wandel bringt das deutsche Rentensystem zunehmend ins Wanken. Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) offenbart, dass ein erheblicher Teil der Babyboomer-Generation früher als gesetzlich vorgesehen in den Ruhestand tritt. Dies verschärft nicht nur die Finanzierungslücke der Rentenkassen, sondern lässt auch die Fachkräftelücke in Unternehmen weiter anwachsen. Besonders betroffen sind systemrelevante Branchen wie Pflege, Handwerk und Bildung. Gleichzeitig geraten jüngere Generationen unter Druck, den steigenden Bedarf an Sozialabgaben zu stemmen.

Jeder zweite geht vorzeitig

Laut IW gingen bis Ende 2023 rund 1,8 Millionen Menschen aus den geburtenstarken Jahrgängen der 1950er- und 1960er-Jahre vorzeitig in Rente – das entspricht 44 Prozent der Gesamtjahrgänge. Bezogen auf die tatsächlichen Renteneintritte liegt der Anteil sogar bei über 55 Prozent. Allein im Jahr 2023 erhielten bereits 4,5 Millionen Babyboomer eine Altersrente, davon 0,9 Millionen, obwohl sie das gesetzliche Renteneintrittsalter noch nicht erreicht hatten.

Die abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte spielt laut IW dabei eine zentrale Rolle: Nach 45 Versicherungsjahren können Arbeitnehmer:innen zwei Jahre vor dem Regelalter ohne Abschläge in Rente gehen. Das begünstigt insbesondere besserverdienende, gut ausgebildete Fachkräfte mit stabilen Erwerbsbiografien. Das IW weist darauf hin, dass Menschen mit niedrigerem Einkommen sich diesen frühzeitigen Ausstieg oft nicht leisten können. Hinzu kommt: In vielen Fällen sind es nicht körperlich stark belastete Berufsgruppen, sondern eher akademisch geprägte Berufswege, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen.

Zudem stellt sich die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit: Während einkommensstarke Gruppen von frühzeitiger Rente profitieren, müssen Beschäftigte in Niedriglohnbranchen nicht nur länger arbeiten, sondern tragen auch überproportional zur Finanzierung der Rentenkassen bei. Die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit im deutschen Rentensystem öffnet sich dadurch weiter.

Reformbedarf und politische Realitäten

Obwohl Bundeskanzler Friedrich Merz eine Rentenreformkommission angekündigt hat, sind Fortschritte fraglich. Die SPD hält am Wahlversprechen fest, die abschlagsfreie Rente nach 45 Jahren nicht anzutasten. Die Folge: Lösungsansätze wie die "Aktivrente" – steuerfreie Hinzuverdienste bis 2.000 Euro für Rentner:innen über das Regelalter hinaus – bleiben kosmetischer Natur. IW-Expertin Ruth Maria Schüler kritisiert, dass vor allem gut ausgebildete und wohlhabendere Fachkräfte von dieser Regelung profitieren, während weniger Privilegierte aus finanziellen Gründen weiterarbeiten müssen.

Auch das Argument gesundheitlicher Belastung ist nicht pauschal aufrechtzuerhalten: "Es gibt Berufe, da sind die Leute mit 60 schon fertig", räumt Arbeitsministerin Bärbel Bas ein. Doch gerade die statistisch bevorzugten Frühverrenteten entstammen häufig nicht den körperlich anspruchsvollsten Berufen, sondern verfügen über akademische Abschlüsse und überdurchschnittliches Einkommen. Dies wirft auch Fragen nach der Zielgenauigkeit bestehender Rentenregelungen auf.

Ein weiteres Problem: Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird politisch kaum vermittelt, solange es sozialpolitische Privilegien gibt, die das Gegenteil belohnen. Die IW-Studie plädiert daher für ein systematisches Überdenken der Anreizstruktur im Rentensystem – nicht nur im Hinblick auf Fairness, sondern auch zur Sicherung der volkswirtschaftlichen Tragfähigkeit.

Rentenwelle trifft auf leere Büros

Die Spitze der Verrentungswelle wird 2031 erwartet, wenn der geburtenstärkste Jahrgang 1964 das reguläre Rentenalter erreicht. Bereits jetzt verschärfen sich die Engpässe in zahlreichen Branchen. Der zunehmende Fachkräftemangel trifft nicht nur Industrie- und Handwerksbetriebe, sondern auch den öffentlichen Dienst. Das IW warnt vor den steigenden gesamtwirtschaftlichen Kosten, sollten politische Korrekturen ausbleiben.

Zudem kommt die Hoffnung auf internationale Fachkräfte nicht in dem Maße zum Tragen, wie es nötig wäre: Bürokratische Hürden, fehlende Anerkennung von Qualifikationen und Integrationsprobleme verhindern, dass Zuwanderung die Lücken schließen kann. Auch hier fordern Experten mutige politische Schritte, um Deutschland als attraktiven Arbeitsstandort zu positionieren.

Die Rentenpolitik steht somit im Zentrum eines demografischen Stresstests. Zwischen Versorgungsansprüchen, Beitragsstabilität und Fachkräftesicherung muss ein neues Gleichgewicht gefunden werden – ohne Tabus, aber mit klarem Blick für die realen Belastungen künftiger Generationen.

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