Ich hab' Rücken
Prof. Wilhelm Eisner: "Ein, zwei Stunden nach dem Sport geht der Schmerz wieder los"

Er ist eine DER Koryphäen der Schmerzmedizin: Prof. Wilhelm - Willi - Eisner, war Neurochirurg an der Universitätsklinik Innsbruck und Präsident der Österreichischen Schmerzgesellschaft. Er beschäftigte sich über 40 Jahre hinweg mit Rückenproblemen. Irgendwann fand er so etwas wie die eine große Ursache an der Misere - und entwickelte eine Methode, die bei den allermeisten Kreuzleiden Abhilfe schaffen kann.

All die Jahre wurden unzählige Menschen bei Dr. Eisner mit Fehlhaltungen vorstellig. Er hat sich das Problem aus verschiedenen Blickwinkeln genau angesehen. Mit Hilfe der physikalischen Medizin, der Neurochirurgie, der Neurologie, der konservativen Orthopädie, der manuellen Medizin. Und so weiter. "Ich war immer der Suchende und Fragende. Habe mir gedacht, wenn es bis jetzt nicht geholfen hat, es dem Patienten nicht besser geht, dann muss es einen anderen Grund geben. Ich war nie zufrieden, mit den Schlagwörtern, Winkeln, Einteilungen, Mechanisierung des biologischen Menschen", so Eisner, alles nur Hilfsmittel zur Beschreibung und Kommunikation eines Problems ohne Hinweis auf die Ursache dessen

LEADERSNET: Herr Dr. Eisner, warum kämpfen so viele von uns mit Problemen im Rücken?

Eisner: Wir haben es auf dem Gebiet mit einer Menge Halbwahrheiten zu tun. Denken Sie an den Sager: "Wenn du ab 50 ohne Schmerzen aufwachst, kannst du davon ausgehen, dass du tot bist." Oder: Die wichtigsten Muskeln für die aufrechte Haltung sind die Bauch- und Rückenmuskulatur. Stimmt alles zum Teil aber unter genauer Betrachtung doch nicht. Es sind die Muskeln an den Oberschenkelinnenseiten von entscheidender Bedeutung, die sozusagen die Beckengürtelmuskulatur und somit die Bauchmuskulatur mit beeinflussen.

LEADERSNET: Aha.

Eisner: Grundsätzlich unterscheiden wir zwei Muskelsysteme: Die Haltemuskulatur und die Bewegungsmuskulatur. Die erstere ist die tiefsitzende Muskulatur. Sie ist für die Haltung zuständig und wird so gut wie gar nicht trainiert. Denn beim Training werden meistens Bewegungen ausgeführt und somit werden die Bewegungsmuskeln trainiert, es läuft ein Teil der Haltemuskulatur mit, aber viel zu wenig.

LEADERSNET: Und was heißt das?

Eisner: Im Endeffekt haben wir eine muskuläre Diskrepanz zwischen einer zunehmend verkümmernden Haltemuskulatur und einer immer stärker werdenden Bewegungsmuskulatur. Wir haben verschiedene Effekte in den unterschiedlichen Muskeltypen bzw. Veränderungen folgen nicht einem einfachen Schema F. Wenn sich Wenn sich die Bewegungsmuskulatur abschwächt, weil sie nicht mehr trainiert wird, oder weil die Leute älter oder vorübergehend einmal krank werden, dann dehnt sie sich und wir sehen wie ein Rundrücken zunimmt.

        "Die Autofahrer, die Ihnen mit vorgestrecktem Kinn entgegenkommen - sie alle sitzen fatal falsch."

Die Haltemuskulatur hingegen verkürzt sich, wenn sie nicht trainiert werden und an Masse abnimmt. Sie muss ja die Basis Haltefunktion des aufrechten Ganges ausführen. Sie muss den Körper in der aufrechten Position halten. Diese unterschiedlichen Eigenheiten der Muskelsysteme führt zu einer fatalen Kettenreaktion. Die Haltemuskeln werden kürzer und dadurch zieht sich der vordere Beckengürtel, das Schambein nach unten. Damit wird das Becken nach hinten verkippt. Ein Hohlkreuz in der unteren Wirbelsäule und im Kreuzbein entsteht. Woraufhin durch diese Vorgabe die Brustwirbelsäule runder wird und einen Buckel macht. Die Schultern kippen nach vorne, damit wird der Kopf nach vorne verlagert und das Kinn wird nach vorne gestreckt. Denken Sie an die Leute im Auto, die Ihnen entgegenkommen, mit dem Kinn weit nach vorne gestreckt. Sie alle sitzen im Hohlkreuz am unteren und oberen Ende der Wirbelsäule, mit einem Buckel dazwischen.

Wir müssen uns bewusst machen, was die Haltung ausmacht. Dass sie als Kind relativ gerade, flach und aufrecht ist. Dass zwischen 17 und 24 Jahren sich der erste Schub vollzieht, bei dem die Haltung verfällt. Dann kommen Studium, Arbeit, die meisten Personen haben ja sitzende Tätigkeit. Frauen bekommen Kinder, was sich oftmals ganz fatal auf die Haltung auswirkt, wenn nach den Geburten keine spezifischen Übungen zur Haltungskorrektur durch Beckenaufrichtung und Wiederherstellung der Balance zwischen Haltungs- und Bewegungsmuskulatur gemacht werden.

       "Bewegung ist viel wert, aber sie sagt nichts über die Haltung"

LEADERSNET: Welche Rolle spielen Sport und Bewegung, um dem entgegenzuwirken?

Eisner: Auch da haben wir es wieder mit diesen Halbwahrheiten zu tun. Den Patienten wird gesagt, sie müssten sich mehr bewegen. "Beweg dich", Bewegung ist alles. Bewegung ist viel, aber die Bewegung sagt nichts aus über die Haltung.

Wenn Sie eine Fehlhaltung haben und in der sich bewegen, fühlen Sie sich gut, solange Sie sich bewegen. Solange die Muskulatur durchblutet ist, solange Sie die Bewegung ausführen. Denn die Durchblutung verbessert den Muskelstatus, der Muskel wird besser trainiert. Das sind diese Trainingseffekte, es ist die Ansätze, die Sehnen, die Sehnen-Knochenhautübergänge, das wird alles stimuliert. ABER die Fehlhaltung wird nicht verbessert. Die ist aber die Schmerz-Ursache. Hormone unterstützen den Zustand nachhaltig. Das während des Sports ausgeschüttete Adrenalin  steigert unsere Leistungsfähigkeit und reduziert Schmerzen. Damit wir nach dem Sport nicht in ein in ein Loch fallen folgt ein Riesenschwanz von Cortisol, der das abfangt. Aber dann, ein, zwei, drei Stunden oder einen Tag später geht der Rücken Schmerz wieder von vorn los. Denn bisher hat sich in ihrem schmerzendem System nichts verändert. Die Haltung ist nach wie vor die gleich schlechte. 

LEADERSNET: Wie kommen wir da wieder raus?

Eisner: Erst einmal müssen wir die muskuläre Dysbalance zwischen Halte- und Bewegungsmuskulatur anerkennen und für mich, Willi Eisner, identifizieren: Wie schlecht bin ich in meiner Haltung? Wie kann ich mich sehen? Gar nicht! Ich sehe meine Nasenspitze und meine Hände und im Sitzen meine Beine. Der Rest ist ein Phantasiegebilde aus Spiegelbildern, Fotos, unserer Vergangenheit und unserer Idealvorstellung meiner Person. Das meiste ist sogar Spiegel verkehrt. Unsere Haltung können wir live kaum sehen und sehr schlecht analysieren. Deswegen gehen wir zum Arzt, zum Physiotherapeuten, zum Sporttraining.

       Aber keiner wird denen wird wirklich sagen, wie schlecht Ihre Haltung wirklich ist.

Abnehmen sollte man, Bewegung täte nicht schlecht - und was macht unser Gehirn daraus? So schlecht bist gar nicht, schau mal den xx an, bah ist der schlecht beieinander. Was will ich damit sagen? So wie es ist, ist es definitiv viel schlechter als man meint und merken sie sich das! Es ist viel viel schlechter als Sie meinen! Sie hätten sonst nicht die über Jahre zunehmenden Schmerzen! Ob spezifische – oder unspezifische Rückenschmerzen - wenn Sie es weiter so laufen lassen kommen Sie in einen Zustand aus dem es immer schwerer wird herauszukommen.

Dann lautet mein Konzept, dass ich gemeinsam mit dem Patienten daran arbeite, die Haltung soweit aus der gekrümmten Haltung in eine wieder mehr aufgerichtete Haltung zurückzuführen. Wir wollen die sagittale Balance verbessern oder gar wiederherstellen.

LEADERSNET: Woran erkenne ich, dass ich nicht mehr in der sagittalen Balance bin?

Eisner: Schauen Sie die Gesamtheit ihres Körpers von Fuß bis Kopf an:

Weichen die großen Zehen zur Seite ab? Bingo!

Sind Sie Vorfußsteher:in? Bingo!

Haben Sie Plattfüße – Senk-Spreitz-Füße? Bingo!

Spüren Sie beim Stehen, dass Sie nicht mit der Hauptbelastung auf der Ferse stehen? Bingo!

Haben Sie ein Bäuchlein, unter dem Nabel? Bingo!

Hängen die Schultern nach vorne? Bingo!

Ziehen Sie die Schulterblätter nicht nach hinten, hinten zusammen und nach unten? Bingo!

Ist Ihr Kopf vor den Schultern? Bingo!

Haben Sie Falten im Nacken, wenn Sie Stehen? Bingo!

Legen Sie sich auf eine gerade Liege, ohne Kissen: Ist das Kinn höher als die Stirn? Bingo!

Können Sie den Kopf nicht mehr so weit in den Nacken legen wie früher? Bingo!

Können Sie den Kopf nicht mehr so weit nach links und/oder rechts drehen? Bingo!

Haben Sie immer wieder Schulterschmerzen? Bingo!

Je mehr Bingos Sie haben, desto sicherer sind Sie nicht mehr in der sagittalen Balance, die die Grundvoraussetzung für weniger Schmerzen ist.

       "Ich war auch auf dem Weg zum Krüppel. Heute bin ich nahezu beschwerdefrei"

Wieso soll es Ihnen auch anders gehen als mir! Ich war auf dem Weg zum Wirbelsäulenkrüppel gewesen und hab mich, dank meines fächerübergreifenden Wissens, wieder ins schmerzreduzierte Leben zurück gearbeitet. Heute bin ich nahezu beschwerdefrei. Meine Kolleg:innen hätten mich lieber operiert und dann weiter leben lassen, wie davor – dann hätte ich keine Chance gehabt auf eine gute Lebensqualität.

LEADERSNET: Werden all diese Haltungskorrekturen nicht im Rahmen einer Physiotherapie erlernt?

Eisner: Offenbar nicht. In Deutschland hatten wir vor Beginn der Corona-Krise eine Erhebung, in dessen Rahmen alle Physiotherapie-Zuweisungen überprüft worden sind. Und es waren bei 84 Millionen Einwohner in Deutschland, 2019, 2020, um die 20 Millionen Physiotherapie-Zuweisungen - mit Kosten zwischen sechs und sieben Milliarden Euro. Sechs bis acht Wochen nach Therapieende haben die Physiotherapeuten, die Physiotherapielehrer, die Orthopäden, die Neurologen, die Hausärzte und so weiter die Patienten nachuntersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass 70 bis 80 Prozent wieder Beschwerden hatten. Letztendlich haben von der Therapie nur zehn Prozent nach ein, zwei Jahren noch profitiert. Das ist erstens zu teuer. Und zweitens nicht sinnvoll. wenn der Erfolg so gering ist.

LEADERSNET: Was muss sich verbessern im deutschen Gesundheitssystem?

Eisner: Die Patient:innen gehen zum Arzt, der hört sich die Beschwerden an und macht dann nicht gleich ein "Absicherungs MRT" (für sich), sondern untersucht oder schickt zu jemanden, der untersuchen kann. Immer häufiger erscheinen Artikel, die behaupten, dass ein unauffälliger neurologischer Status mit "die oder der hat nichts" gleichgesetzt wird. Die neurologische Untersuchung ist eine Segmentdiagnostik über Reflexe und Kennmuskulatur, was die nicht segmentale Diagnostik des Beckengürtels und Schultergürtels nicht beinhaltet. Erst diese zusätzlichen Untersuchungen, aber auch die Untersuchung von Bindegewebe, Faszien und Haut führt zu einer umfassenderen und den Menschen besser erfassenden Befunderhebung. Diese Situation erstreckt sich inzwischen auch auf die medizinische Begutachtung, was eine Katastrophe ist!

       "Die Bildgebung ist massiv überbewertet"

Chronische Rückenschmerzen zählen zu den häufigsten Gesundheitsproblemen. Gleichzeitig zeigt sich, dass viele Patient:innen trotz zahlreicher Therapieversuche nie umfassend diagnostiziert wurden.

Die Multimodale Therapie ist die wirksamste Behandlungsform. Die Behandlungsergebnisse sollten definiert werden und am Ende durch Überprüfung bestätigt werden. Redundante Tests sollten durch Tests mit höherer klinischer Relevanz ersetzt werden. Die Bildgebung ist massiv überbewertet und nicht in der Lage Schmerz zu erkennen. Und nie dürfen die Behandelnden vergessen: Jeder Schmerz ist echt! 

LEADERSNET: Zu guter Letzt - was können Betroffene tun?

Eisner: Nicht verzweifeln und nicht vor Frust Rauchen, Trinken und übermäßig Essen. Sondern sich sammeln und Ziele definieren. Sicherlich ist es gut, dass sich die Menschen mehr denn je bewegen, aber haben wir damit weniger Schmerzen? Bei mir in Tirol sind die Berge voller Menschen Und auch diese Berggeher sind meine Patienten. Wenns mal richtig weh tut sind sie alle auf der Suche nach dem heiligen Bandscheibenvorfall, der für alles und jeden Blödsinn herhalten muss. Dabei sind der Bandscheibenvorfall und andere Wirbelsäulenveränderungen ja auch nur Ergebnisse der Fehlhaltung in Folge muskulärer Dysbalancen. Bei schweren neurologischen Ausfällen wie Lähmungen, Unfähigkeit Urinieren zu können bei gefüllter Blase (ohne andere Ursache) ist natürlich der Neurochirurg sofort gefragt.

Aber bei immer mehr werden Schmerzen muss zuerst sehr gut untersucht werden. Häufig findet man ein Myofasziales Syndrom. Schmerzen durch und in der Muskulatur und im Bindegewebe, das hartnäckig sein kann, aber auch bei Disziplin gut behandelbar ist. Wichtig ist zu erkennen, dass die Probleme über Jahrzehnte entstanden sind und nicht ganz so lange brauchen bis sie wieder verschwunden sind. Wichtig sind Geduld und Hartnäckigkeit, denn Haltung ist geübt und braucht die gleiche Pflege und Zuwendung, wie Sie sie für das Fahrradfahren, das Skifahren, das Musizieren aufwenden. 

 

 

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