Heinecke erlebte den Anstoß für sein einmaliges sozialunternehmerisches Tun durch einen 28-jährigen, erblindeten Mann – eine Schicksalsbegegnung, die auch sein eigenes Leben verändern sollte. Als Journalist begann er seine Laufbahn mit Geschichten über andere – heute schreibt er selbst Geschichte: als Visionär, Sozialunternehmer und Pionier im Bereich inklusiver Bildung.
Mit "Dialog im Dunkeln" stellte er 1988 die Welt buchstäblich auf den Kopf: ein Raum völliger Dunkelheit, in dem Blinde die Sehenden führen, Sehende in eine völlig neue Welt eintauchen und Empathie nicht erklärt, sondern erlebt wird. Heinecke ist der erste Ashoka Fellow Westeuropas, Global Fellow der Schwab Foundation, Osher Fellow des Exploratoriums in San Francisco – und Ehrenprofessor für Social Business an der EBS Universität in Wiesbaden.
Seine Projekte "Dialog im Stillen" und "Dialog mit der Zeit" sind nicht bloß Ausstellungen, sondern gesellschaftliche Interventionen: Sie machen Unsichtbares sichtbar, Unerhörtes hörbar, Vergessenes lebendig. Heinecke will das soziale Lernen zum Modell erheben und Menschen eine Stimme geben, die sonst keine haben – im Interview mit LEADERSNET spricht er darüber, wie ihm das gelingt.
LEADERSNET: "Man sieht nur mit dem Herzen gut", schrieb Saint-Exupéry einst. Sie lassen Menschen erleben, wie das konkret funktioniert. Wann haben Sie selbst zum ersten Mal gespürt, dass man in völliger Dunkelheit mehr erkennen kann als im grellen Licht der Normalität?
Andreas Heinecke: Das war im Dezember 1988, als ich zum ersten Mal selbst den Mut fasste, mich in diesen dunklen Raum zu begeben. Dialog im Dunkeln existiert nun bereits seit 38 Jahren, aber dieser Moment war für mich persönlich transformativ. Ich bewegte mich tastend durch die Dunkelheit, wurde geführt und spürte diese Abhängigkeit, Dankbarkeit, das Vertrauen und den Stolz, die Situation zu bewältigen – und empfand plötzlich eine ungeheure Wirkungsmacht.
Wissen Sie, ich hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was ich eigentlich auf diesem Planeten bewirken wollte. Doch in diesem Augenblick, als ich diese überwältigende Emotion erlebte, war mir klar: Diese Erfahrung besitzt eine unheimliche Kraft. An dieser Kraft wollte ich mich festhalten und sie in die Welt tragen.
LEADERSNET: Dialog im Dunkeln wurde in über 40 Ländern mit mehr als 20 Millionen Besucher:innen realisiert. Haben Sie bei dieser weltweiten Resonanz je befürchtet, dass der ursprüngliche Zauber – die persönliche Irritation, die Umkehr der Perspektive – verloren gehen könnte?
Andreas Heinecke: Eine berechtigte Sorge, die mich durchaus beschäftigt hat. Natürlich stelle ich mir die Frage nach der Halbwertszeit – auch soziale Innovationen unterliegen wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. Alles kann sich abnutzen, verwässern, überholt werden. Vielleicht ändern sich die Bedürfnisse des Publikums, entstehen attraktivere Freizeitangebote, oder Inklusion wird zu einem selbstverständlichen Thema.
Aber ich muss Ihnen sagen: Dieser Zauber, wie Sie es so treffend formuliert haben, ist erstaunlich unverbraucht geblieben. Ich war kürzlich in Hongkong, Japan und Korea – dort haben wir 25 Jahre Dialog im Dunkeln in Japan gefeiert, 15 Jahre in Korea. Und die Erfahrung besitzt nach wie vor diese ungeheure Frische.
Das liegt daran, dass sie etwas zutiefst Archaisches in uns berührt. Dialog im Dunkeln wird zu einer Art Kulturgut. In Hamburg seit 25 Jahren, in Wien ebenfalls seit langer Zeit – das Erlebnis wiederholt sich für jeden Menschen aufs Neue und ist doch jedes Mal völlig anders. Die Wirkungsmacht der Dunkelheit und die Kompetenz blinder Menschen haben sich keineswegs überholt.
LEADERSNET: Als erster Ashoka Fellow (Anm.: fördert in ca. 70 Ländern Sozialunternehmer) Westeuropas haben Sie bewiesen, dass soziale Innovation auch wirtschaftlich tragfähig sein kann. Ihr Social-Franchise-System für Dialogue in the Dark operiert heute weltweit. Wie vereinbaren Sie die Kommerzialisierung von Empathie mit dem authentischen Auftrag sozialer Transformation? Wo verläuft die Grenze zwischen Impact und Profit?
Andreas Heinecke: Das ist eine Frage, die sich jeder Sozialunternehmer stellen muss – und zwar ständig. Natürlich brauchen wir Einnahmen, um zu überleben. Aber der Antrieb muss klar bleiben: Es geht nicht ums Geld, sondern darum, Veränderung zu bewirken. Wir hatten nie den Luxus, uns zu fragen, ob wir zu kommerziell geworden sind. Wenn es gut läuft, ist es ein Nullsummenspiel.
Aber es gibt Grenzfälle. Ich erinnere mich an eine Automobilmesse, zu der wir eingeladen wurden. Der Veranstalter war begeistert von unserem Konzept – und wollte uns unbedingt dabeihaben. Dann kamen Sprüche wie: "Ich hab echte Neger" – Zitat. Dazu wurden Matetee-Girls eingeflogen, die den Verkäufern Shrimps in den Mund legten. Eine zynische, menschenverachtende Show. Wir wollten das nicht.
Und dann kam ein Angebot, so hoch, dass ich es aus finanziellen Gründen angenommen habe – um zwei Stellen bei uns ein Jahr lang zu sichern. Das war ein fauler Kompromiss. Einer, den ich heute nicht mehr machen würde. Aber er zeigt, wie dünn das Eis manchmal ist. Wir werden nicht philanthropisch unterstützt, nicht staatlich gefördert. Also ja, man muss wachsam bleiben – damit der Sinn nicht vom System gefressen wird.
LEADERSNET: In einer Welt, in der Social Media oft als Maßstab für Sichtbarkeit gilt – wie gelingt es Ihnen, mit Dunkelheit, Stille und Alter Themen auf die Bühne zu bringen, die sonst übersehen oder überhört werden?
Andreas Heinecke: Das Schöne ist: Wir haben praktisch keine Werbe- oder Marketingbudgets, unser Social Media-Auftritt ist sehr überschaubar. Was uns am Leben hält, ist das, was alle erreichen wollen: die Mund-zu-Mund-Propaganda.
Menschen, die unsere Ausstellung erleben, sprechen mit mindestens drei anderen darüber. Es entsteht ein Multiplikator-Effekt – unsere Besucher werden zu Botschafter:innen. Das funktioniert, weil die Erfahrung so nachhaltig und tief ist, dass sie im Gedächtnis haftet.
Dafür gibt es sogar wissenschaftliche Erklärungen: In der Dunkelheit wird Melatonin ausgeschüttet, das die Merkfähigkeit fördert. Dazu kommen Endorphine – Glückshormone, die entstehen, wenn Menschen merken: Ich kann das schaffen. Dieser hormonelle Mix führt zu einem starken Impuls, das Erlebnis zu teilen.
LEADERSNET: In Dialog mit der Zeit Sie mit Menschen über 70 – einer Bevölkerungsgruppe, die häufig "abgehängt" ist und in vielerlei Hinsicht als benachteiligt gilt. Was haben Sie persönlich durch diese Zusammenarbeit über das Älterwerden gelernt, das keine Studie je vermitteln könnte?
Andreas Heinecke: Ich glaube fest daran: Man lernt nur durch Begegnung. Das sagt schon Martin Buber. Ich hatte das Glück, viele beeindruckende ältere Menschen kennenzulernen – und war gleichzeitig irritiert, wie negativ das Bild vom Alter oft ist. Dabei habe ich ältere Menschen oft als besonders gelassen, klug und unaufgeregt erlebt. Diese Würde, die aus Erfahrung entsteht, hat mich fasziniert. Das war auch der Anlass, mich tiefer mit dem Thema zu beschäftigen. Ich selbst komme jetzt auch in ein Alter, in dem ich merke: Das ist nicht mehr nur Theorie.
Älterwerden, Sterben, Behinderung – das sind keine Randthemen. Das sind Kernfragen des Lebens. Und ich glaube, es ist wichtig, sich damit zu beschäftigen. Nicht aus Angst, sondern um sich darauf einstellen zu können. Und auch um anderen zu helfen, diese Themen nicht zu verdrängen, sondern ihnen ins Gesicht zu sehen.
LEADERSNET: Das führt uns zu einem größeren Thema: Sie beschäftigen sich mit den Tabus unserer Gesellschaft – Behinderung, Tod, Älterwerden. Alles Themen, die gesellschaftlich stark tabuisiert sind.
Andreas Heinecke: Ja, aber sie sind unausweichlich. Deshalb halte ich es für wichtig, sich damit auseinanderzusetzen. Ich entwickle sogar einen "Dialog mit dem Ende", wo wir Palliativpatienten und Menschen mit Nahtoderfahrungen zusammenbringen. Ich finde es enorm wichtig, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen und keine Angst davor zu haben.
Leben heißt sterben lernen, wie es so schön heißt. Das heißt, ich muss lernen, den Zustand zu akzeptieren, dass ich eines Tages tot bin. Diese Themen interessieren mich, weil sie so grundlegend sind und weil ich aus Eigennutz eine Verortung in dieser Welt brauche.
Die Frage war: Soll ich Bücher schreiben? Aber wer liest heute noch Bücher? Und Bücher sind eine elitäre Angelegenheit. Ich möchte auch bildungsferne Menschen erreichen. Unsere Ausstellung ist das ideale Bildungsformat – Menschen lernen durch Erfahrung, nicht durch Belehrung.
LEADERSNET: In einem Interview sagten Sie, dass man Menschen nicht verändern kann – nur Erfahrungen schaffen, die sie verändern. Was war die prägendste Erfahrung, die Sie verändert hat – beruflich oder privat?
Andreas Heinecke: Zwei Erlebnisse kommen mir sofort in den Sinn. Das eine war die Begegnung mit einem blinden Mann, die mich zum Dialog im Dunkeln geführt hat. Ohne ihn wäre mein Leben völlig anders verlaufen.
Das andere war ein Treffen mit einem sehr alten Professor in der Schweiz, als ich meine Dissertation schrieb.
Ich war überzeugt, ihm die Welt erklären zu können – mit meinen zwei Seiten Entwurf. Er hörte höflich zu, sagte nichts, und erst später sah ich in seinem Regal: Er hatte über 30 Bücher veröffentlicht. Diese Bescheidenheit hat mich tief beschämt – und verändert. Ich habe gelernt, dass Wissen nicht laut sein muss. Und dass Arroganz meist ein Mangel an Erfahrung ist.
Und dann natürlich: meine Frau. Seit 25 Jahren leben wir zusammen – mit allen Höhen, Tiefen, Reibungen und Reizungen. Liebe ist Arbeit. Und ein Geschenk.
LEADERSNET: Nach über 30 Jahren sozialunternehmerischer Arbeit: Gibt es etwas, das Sie heute anders machen würden, wenn Sie 1988 noch einmal vor der Gründung von Dialog im Dunkeln stünden?
Andreas Heinecke: Wahrscheinlich gar nicht so viel. Natürlich lernt man mit der Zeit. Ich würde mir selbst raten: Sei geduldiger. Nicht alles muss sofort passieren. Dinge brauchen Zeit. Und ich würde versuchen, weniger transaktional zu denken. Nicht jede Antwort sofort parat zu haben, nicht immer zu glauben, man wisse schon, wie’s geht.
Ich war oft zu vertrauensvoll, habe Menschen zu viel zugemutet, weil ich dachte: Wenn ich das kann, können die das auch. Das hat sicher zu Enttäuschungen geführt. Aber letztlich glaube ich: Die Persönlichkeit verändert sich nicht grundlegend. Man kann sie besser kennenlernen – und damit arbeiten. Aber sie bleibt. Und im Großen und Ganzen bin ich mit dem, was daraus geworden ist, sehr im Reinen.
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