Die CMO des Clean-Tech-Unternehmens 1KOMMA5° im Interview
Sophia Rödiger: "Wir müssen Energie neu denken – im Rhythmus von Wind und Sonne"

Wie gelingt die Energiewende im Gebäudesektor – und warum scheitert sie oft an der Realität vor Ort? Sophia Rödiger, CMO beim Clean-Tech-Unternehmen 1KOMMA5°, spricht im Interview über veraltete Strukturen, politische Unsicherheiten und die Notwendigkeit echter digitaler Innovation. Sie erklärt im Interview mit LEADERSNET, warum Eigenverantwortung zentral ist, um in die Selbstwirksamkeit zu kommen – und wie Technologie, Handwerk und Haltung gemeinsam eine neue Energiekultur ermöglichen.

LEADERSNET: Frau Rödiger, Sie engagieren sich mit großem Einsatz für die Transformation unseres Energiesystems. Wo sehen Sie aktuell die größten Hürden für eine konsequente Energiewende?

Sophia Rödiger: Der Energiemarkt ist in vielerlei Hinsicht nicht auf Erneuerbare vorbereitet: Er ist träge, manuell, statisch – und auf fossile Energien ausgelegt. In vielen Haushalten wird der Stromzähler einmal im Jahr manuell abgelesen. Das zeigt: Die Infrastruktur ist nicht digital und schon gar nicht flexibel.

LEADERSNET: Warum ist der Digitalisierungsgrad in der Energiebranche noch immer so gering?

Sophia Rödiger: Es fehlt an Anreizen. Lange Zeit hat alles auch ohne Digitalisierung funktioniert. Stadtwerke und Netzbetreiber hatten keinen Druck zur Veränderung. Erst der Ukraine-Krieg hat ein Umdenken in der Gesellschaft ausgelöst – auf einmal haben sich Bürger:innen Gedanken gemacht, wo kommt meine Energie zu welchem Preis her? Viele Energieversorger haben große Versorgungsbereiche, aber wenig digitale Kompetenz. Da sitzt jemand in der IT, der früher Excel eingeführt hat – und jetzt soll er KI und APIs verstehen. Das überfordert viele. Aber auch die Politik muss die Weichen richtig stellen und die infrastrukturellen Rahmen schaffen, damit Erneuerbare in die Wirkung kommen können. Technologisch sind heute alle Lösungen da.

LEADERSNET: Was ist die Grundidee hinter Ihrem Unternehmen 1KOMMA5°?

Sophia Rödiger: Unsere Mission steckt schon im Namen: "1,5 Grad". Dieses Klimaziel ist unser Nordstern. Wir wollen CO₂ reduzieren – bei Wärme, Mobilität und Haushaltsstrom. Unser Ziel: raus aus fossilen Brennstoffen. Stattdessen setzen wir auf Sonnen- und Windenergie. Wir verstehen uns als Home-Electrification-Company. Sie können sich das vorstellen wie beim Apple-Ansatz: Dort brauchen Sie ein iPhone, um das volle Ökosystem an Apps und Features zu nutzen. Genauso starten wir mit unserem Energiesystem aus Solaranlagen, Wärmepumpen, Klimaanlagen, Speichern, Wechselrichtern, Wallboxen – und unserer intelligenten Strommarkt-Software Heartbeat AI. Ein Komplettsystem für ein elektrifiziertes Zuhause, das Strom nahezu kostenlos zur Verfügung stellen kann. Dieses Angebot bündeln wir als One-Stop-Shop, von der Beratung bis zur Installation und Wartung. Das klingt jetzt riesig: aber 1KOMMA5° hat diese "neue Energie" für alle zugänglich gemacht, so kann man auch nur mit einer Ladesäule fürs E-Auto oder einem Speicher starten.

LEADERSNET: Worin besteht der Unterschied zu klassischen Anbietern aus dem Handwerk?

Sophia Rödiger: Viele Anbieter kommen klassisch aus der Hardware-Ecke, wie der Solaranlage, und bieten keine integrierte Lösung. Bei uns hört es bei der Hardware nicht auf. Denn selbst wenn viele Häuser umgerüstet sind und überall ein Solarmodul installiert wäre, braucht es ein zukunftssicheres Geschäftsmodell. Deshalb bauen wir eine Softwareplattform – unser Herzstück: "Heartbeat AI". Damit sind wir nicht nur Handwerksbetrieb, sondern auch Tech-Company. In Berlin entwickeln ca. 200 Entwickler:innen unsere eigene KI im Forschungszentrum. Dass diese Innovation aus Deutschland kommt, macht uns auch ein Stück weit stolz und zeigt erneut: wir müssen uns nicht verstecken im internationalen Vergleich. Wir liefern alles aus einer Hand. Sie bekommen alle Gewerke für Ihr Projekt plus dynamische Steuerung über unseren Stromtarif und auch den intelligenten Zähler, damit keiner mehr Postkarten mit Zählerständen verschicken muss.

LEADERSNET: Welche Veränderungen sind notwendig?

Sophia Rödiger: Der heutige Energiemarkt ist für planbare, fossile Energiequellen gebaut – Kohle, Gas, Öl. Erneuerbare Energien funktionieren anders: Sie sind wetterabhängig. Deshalb braucht es eine flexible Lastverschiebung – also die Nutzung von Strom dann, wenn er verfügbar und günstig ist. So entsteht ein Rhythmus im Einklang mit der Natur. Das geht nur mit digitaler Steuerung und intelligenter Infrastruktur, wie etwa Smart Metern. Doch deren Verbreitung liegt in Deutschland bei unter zwei Prozent. Zukunftsfähig wird nur sein, wer Flexibilität steuern kann. Und da sind wir wieder bei der Politik.

LEADERSNET: Wie schaffen Sie es, technologische Innovation, Geschwindigkeit und handwerkliche Umsetzung zu verbinden?

Sophia Rödiger: Nur wenn Sie sehr unterschiedliche Talente zusammenbringen, gelingt echte Innovation. Wir haben Teams, die täglich neue Lösungen entwickeln, simulieren, testen, Algorithmen trainieren – etwa im TechLab in Berlin, unserem Forschungs- und Entwicklungszentrum. Sie schauen auch in andere Länder, um frühzeitig Trends aufzuspüren. Im Handwerk arbeiten ganz andere Profile. Dort geht es um präzise Abläufe, schnelle und effiziente Montage. Manche fragen sich: Muss wirklich jemand aufs Dach steigen – oder geht das auch mit Drohne und KI-gestützter Bildanalyse? Das sind wichtige Perspektiven – völlig anders, aber genauso wertvoll. Deshalb fördern wir gezielt Subkulturen. Wir wollen nicht alles vereinheitlichen, sondern schaffen Verbindung über Kommunikation und unsere gemeinsame Mission: CO₂-Reduktion. Das ist unser verbindender Nenner – ob bei Elektriker:innen oder Softwareentwickler:innen. Wenn wir jemanden einstellen, dann, weil wir an seine oder ihre Stärken glauben. Wenn es nicht mehr passt, sagen wir das offen. Wir glauben nicht daran, jemanden mitzuziehen, wenn es keinen gemeinsamen Weg mehr gibt. Das klingt für einige hart, aber eigentlich ist es ehrlich, transparent und unternehmerisch notwendig.

LEADERSNET: Wie führen Sie ein Unternehmen, das so unterschiedliche Profile und Kompetenzen unter einem Dach vereint?

Sophia Rödiger: Unsere Führung basiert auf Vertrauen und Verantwortung – kombiniert mit klarer Messbarkeit. Wir arbeiten mit OKRs (Objectives and Key Results), die monatlich und halbjährlich definiert werden – auch in kreativen Bereichen. Jeder weiß, woran er gemessen wird. Das schafft Sichtbarkeit, Motivation und Verbindlichkeit. In den ersten Monaten wird immer gemeinsam ein Signature-Projekt definiert, hier bekommt das Talent Vertrauen und Freiraum, darf sich aber auch beweisen. Danach wird ein 360° Feedback der Stakeholder und Partner erfragt – hierbei lernen alle am meisten. Menschen wachsen, wenn sie ihre Stärken leben dürfen – nicht, wenn sie verbogen werden. Leistung wird bei uns sichtbar gemacht und gewürdigt. Gleichzeitig sprechen wir No-Performance klar an. Sonst entsteht ein Ungleichgewicht, das demotiviert oder sogar toxisch wird.

LEADERSNET: Einige europäische Länder gelten als deutlich weiter in der Energiewende. Was machen andere Staaten besser als Deutschland?

Sophia Rödiger: Länder wie Schweden, Dänemark oder auch Italien haben ihre Infrastruktur früher modernisiert und standardisiert. Deutschland dagegen setzt oft auf Sonderwege und erzeugt zusätzliche Komplexität – was die Digitalisierung und den Marktzugang bremst. Ein gutes Beispiel dafür ist der Smart-Meter-Ausbau, da liegen wir in Deutschland erst bei 2 Prozent, andere Länder bei nahezu 100 Prozent.

LEADERSNET: Wie bewerten Sie die Förderpolitik der vergangenen Jahre?

Sophia Rödiger: Förderprogramme sind oft zu kurzfristig angelegt. Sie werden eingeführt, gestoppt oder verändert – das führt zu Unsicherheit bei Verbraucher:innen und Unternehmen. Mal geht es um E-Mobilität, dann wieder um die Wärmepumpe. Statt stabiler Rahmenbedingungen entstehen Warteschleifen. Für uns bedeutet das: fehlende Planungssicherheit, stockender Vertrieb und unterbrochene Lieferketten.

LEADERSNET: Was fordern Sie konkret von der Politik, um die Energiewende technisch und wirtschaftlich auf stabile Beine zu stellen?

Sophia Rödiger: Wir brauchen langfristige, verlässliche Rahmenbedingungen – etwa eine konsequente Digitalisierung der Energienetze, marktwirtschaftliche Anreize wie variable Netzentgelte oder die Möglichkeit zur Direktvermarktung von Strom. In den Niederlanden können Kund:innen z. B. überschüssigen Strom gezielt einspeisen und damit Geld verdienen. In Deutschland ist das bislang kaum möglich – wir diskutieren schon seit Jahren über diese Aspekte und weichen in meinen Augen dann auf kleine Nebenschauplätze wie Fördertöpfe aus. Das ist "nett", aber schafft nicht die notwendige Infrastruktur und das Anreizsystem, die es für eine bleibende Transformation brauchen würde.

LEADERSNET: Was hat Sie persönlich motiviert, sich so intensiv mit dem Thema Energie zu beschäftigen?

Sophia Rödiger: Mein Weg war nicht geradlinig – aber ein Thema zieht sich durch: Energie. Im Psychologiestudium habe ich mich mit neuronaler Wissenschaft – also der Energie bei kognitiven Prozessen im Gehirn beschäftigt. Später in der Automobilbranche ging es um Ladeinfrastruktur und Carsharing – als Elektromobilität noch Zukunft war. Ich liebe es, Innovationen in die Breite zu bringen – Brücken zu bauen zwischen Technologie und Alltag. Genau dort liegt meine Stärke.

LEADERSNET: Gab es auf Ihrem Weg auch Rückschläge?

Sophia Rödiger: Ich hatte immer auch Rückschläge. Bei Mercedes wurde unser Innovationsbereich gestrichen und ich musste 20 Leute entlassen. Privat – ich bin körperlich und mental krank geworden, und hätte laut Diagnose noch ein halbes Jahr gehabt, aber ich habe überlebt. Später habe ich selbst gegründet, hatte Hochphasen, aber die Anschlussfinanzierung platzte am Ende. All das hat mir gezeigt: Man muss nicht abstürzen, wenn man springt, und das Beste aus diesen Situationen macht. Heute bin ich risikofreudiger – und das ist eine Stärke. Ich brenne für das, was wir in unserem Unternehmen tun. Es fühlt sich richtig an – inhaltlich, menschlich, kulturell. Ich kann meine Energie und Haltung einbringen. Und ich weiß: Es geht um mehr. Es geht um eine lebenswerte Zukunft. Um Unabhängigkeit und Freiheit. Nicht um abstrakten Klimaschutz, sondern um den Alltag – unseren Alltag.

LEADERSNET: Und welche Haltung braucht es aus Ihrer Sicht gesellschaftlich, damit die Energiewende gelingt?

Sophia Rödiger: Ich glaube fest daran: Wir müssen wieder selbstwirksam werden. Nicht alles outsourcen – weder bei Energie, noch bei Verantwortung. Dafür lohnt es sich, jeden Tag loszugehen. Ich kann aber auch Lethargie, Ablehnung und "Sesselhocken" nicht mehr ertragen. Es ist die Zeit, dass wir alle einen kleinen Schritt machen, mal was anders machen, als wir es immer schon getan haben. Das wird uns die Politik nicht abnehmen und auch nicht 1KOMMA5°.

Kommentar veröffentlichen

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV