Bis zum 2. August 2025 hätte der Gesetzgeber eine zentrale Stelle benennen müssen – vorgesehen ist dafür die Bundesnetzagentur. Doch das entsprechende KI-Marktüberwachungsgesetz (KIMÜG) liegt weiterhin auf Eis. Die Frist zur Benennung einer Marktüberwachungsbehörde für die Umsetzung des EU AI Act wurde folglich verpasst.
Die Marktüberwachungsbehörden sollen laut Artikel 70 der KI-Verordnung nicht nur die Einhaltung der Regeln überwachen, sondern auch als zentrale Anlaufstelle für Unternehmen dienen. Angesichts komplexer Pflichten, noch fehlender Best Practices und drohender Geldbußen von bis zu 35 Millionen Euro oder 7 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes ist diese Rolle entscheidend.
"Durch die Verzögerung fehlt Unternehmen und Behörden nun ihr verbindlicher Ansprechpartner für Fragen zur KI-Verordnung. Dies ist auch ein Nachteil für den KI-Innovationsstandort Deutschland", kritisiert Thomas Fuchs, Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit.
Offener Brief: Siemens und SAP fordern Kurswechsel
Nicht alle sehen die fehlende Umsetzung als Nachteil. Führende deutsche Manager, darunter Siemens-Chef Roland Busch und SAP-Chef Christian Klein, fordern in einem offenen Brief an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Aussetzung des AI Act. Ihr Argument: Strenge und frühe Regulierung könne den europäischen Standort schwächen – gerade in Zeiten, in denen die USA unter der Trump-Regierung massiv deregulieren.
Die Unterzeichner plädieren für eine unternehmensfreundlichere Gesetzgebung, die Innovationen nicht durch Bürokratie bremst. Im Idealfall solle der AI Act grundlegend reformiert oder komplett neu aufgesetzt werden.
Experten warnen vor Abschaffung
Der KI-Experte Philip Hartmann, Geschäftsführer des Münchener KI-Dienstleisters AppliedAI, kann die Motivation der Konzerne zwar nachvollziehen, warnt im Interview mit dem manager magazin aber vor einem reinen Deregulierungsansatz: "Natürlich ist der EU AI Act nicht perfekt, und er hat Schwächen. Aber hier nur schwarz und weiß zu malen und Regulatorik prinzipiell zu verurteilen, halte ich für keinen guten Ansatz."
Hartmann betont, dass es Anwendungsbereiche von KI gebe, die im europäischen Wertesystem bewusst abgelehnt werden sollten – etwa Social Scoring oder Massenüberwachung. In sensiblen Sektoren wie kritischer Infrastruktur oder Kreditvergabe seien klare Regeln unerlässlich: "Regulierung schafft Akzeptanz und Vertrauen. Wenn die Menschen sicher sein können, dass bestimmte Dinge verboten sind, reduziert das Skepsis und Angst."
Komplex, aber reformierbar
Als Schwäche des AI Act nennt Hartmann die hohe Komplexität: "Das Ergebnis sind Hunderte Seiten Gesetz mit diversen Anhängen, Definitionen und erklärenden Dokumenten." Statt Abschaffung schlägt er vor, Anforderungen für jüngere und kleinere Unternehmen zu reduzieren, um Innovation nicht zu ersticken, und gleichzeitig klar zu definieren, in welchen Bereichen bewusst Risiken zugelassen werden.
Eine Abschaffung hingegen könne zu einem Flickenteppich nationaler Vorschriften führen, der die Rechtslage für Unternehmen noch komplizierter mache.
Für Unternehmen aus stark regulierten Branchen wie Finanz- oder Gesundheitswesen sei der AI Act "gar kein so dickes Brett", so Hartmann. Schwieriger sei es für kleinere Betriebe, die weder Rechtsabteilungen noch Compliance-Teams hätten, um sich durch den Wust von Definitionen zu arbeiten.
Die eigentliche Bewährungsprobe steht noch bevor
Klar ist: Regulierung und Innovation sind keine Gegensätze, solange sie sich gegenseitig verstärken. Der AI Act bietet die Chance, genau diesen Beweis anzutreten – vorausgesetzt, er wird nicht als statisches Korsett, sondern als lernfähiger Rahmen verstanden. Für Unternehmen bedeutet das, nicht auf die perfekte Regel zu warten, sondern schon jetzt Prozesse, Kompetenzen und Strategien zu entwickeln, die mit unterschiedlichen regulatorischen Szenarien funktionieren. Vielleicht entscheidet am Ende weniger die Geschwindigkeit der Politik als die Fähigkeit von Wirtschaft und Gesetzgeber, im Dialog einen beweglichen Ordnungsrahmen zu schaffen, der Wachstum ermöglicht und Vertrauen verdient.
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