Tess Buchele und Nicola Le Vourch im Interview
"Feminismus bedeutet für uns nicht, den ganzen Tag im Hosenanzug herumzulaufen"

| Dagmar Zimmermann 
| 15.05.2025

Zwei Frauen, eine Vision: Tess Buchele und Nicola Le Vourch arbeiten seit vielen Jahren eng zusammen und teilen ihre Leidenschaft für Printmagazine. Gemeinsam haben sie Marie Claire im vergangenen Jahr erfolgreich auf den deutschen Markt zurückgebracht, nachdem Gruner + Jahr das Magazin 2003 eingestellt hatte. Im Gespräch mit LEADERSNET berichten sie von gesellschaftlich relevanten Themen, warum sich ihr Magazin bewusst vom schnellen Konsum abheben soll und wie sie selbst den Begriff Schönheit definieren.

LEADERSNET: Die zweite Ausgabe von Marie Claire ist aktuell am Kiosk erhältlich. Welche Frauen möchten Sie mit dem Magazin erreichen?

Tess Buchele: Wir richten uns an eine ambitionierte Zielgruppe: Frauen, die engagiert im Leben stehen und die wir bewusst nicht nach einer bestimmten Alterskategorie klassifizieren. Wir glauben, dass diese Frauen eine gemeinsame Lebenseinstellung teilen – unabhängig vom Alter. Sie sind intelligent, weltoffen und interessieren sich für vielfältige Themen. Sie wissen den Wert schöner Dinge zu schätzen und beschäftigen sich mit Design, Kunst und Kultur.

LEADERSNET: Wie darf man sich die Zusammenarbeit mit der Marie-Claire-Group in Frankreich vorstellen?

Tess Buchele: Wir pflegen eine sehr positive Partnerschaft mit Frankreich, die vor allem durch einen intensiven Austausch mit den Ländereditionen geprägt ist. Was die Unterstützung und den Aufbau der Marke betrifft, sind auch Ideen und Inspirationen aus anderen Ländern von großer Bedeutung – zum Beispiel, welche Events und Maßnahmen dort durchgeführt werden.

Nicola Le Vourch: Mit der Erstausgabe haben wir uns das Vertrauen erarbeitet und viel Lob erhalten – sogar bis hin zur obersten Ebene des Vorstands. Ab der zweiten Ausgabe wurde uns dann wirklich die Freiheit gegeben, kreativ zu arbeiten. Wir sind überzeugt, dass Marie Claire in jedem Land an die jeweilige Kultur und den Markt angepasst werden sollte. Das ist auch der Wunsch der Marie-Claire-Gruppe. Es soll kein standardisiertes Heft aus internationalen Inhalten entstehen, aber die klare DNA der Marke wird in allen 30 Ländern, in denen die Marie Claire erscheint, beibehalten.

LEADERSNET: Wie sieht diese DNA aus?

Nicola Le Vourch: Zur DNA gehören neben Fashion und Beauty auch mindestens zwei Reportagen in jeder Ausgabe. Diese grundlegenden Parameter, die international einheitlich sind, müssen wir einhalten. Bei den Themen selbst jedoch gehen wir auf gesellschaftlich relevante Fragestellungen ein, die Frauen in Deutschland wirklich interessieren. Die Themen müssen mit der Stimmung im jeweiligen Land im Einklang stehen und für die Leserinnen von Bedeutung sein. Das ist der Schlüssel, um wirklich relevante Inhalte zu bieten.

LEADERSNET: Welche Bedürfnisse hat der deutsche Markt?

Nicola Le Vourch: Für den deutschen Markt sehe ich definitiv das Bedürfnis, auch mal in die Tiefe zu gehen – mehr als in vielen anderen Märkten. Deutsche Leserinnen schätzen es, sich abseits des Bildschirms eine Auszeit zu nehmen. Während tägliche News heutzutage meist online oder im TV konsumiert werden, wächst das Bedürfnis nach Ruhe und vertieftem Lesen. Hier liegt die Rolle einer Zeitschrift: Wir möchten den Leserinnen viermal im Jahr saisonale, tiefgehende Themen bieten, die über den Alltag hinausgehen und länger relevant bleiben.

LEADERSNET: Wie integrieren Sie gesellschaftspolitische Themen in der Marie Claire?

Nicola Le Vourch: Was wir sehr bewusst tun, ist sogenanntes "Role Modeling". Wir zeigen regelmäßig Porträts von Frauen, die zu bestimmten Themen etwas zu sagen haben – wie sie damit umgehen, welche Träume sie hatten und wie sie ihren eigenen Weg gegangen sind. Das halte ich für sehr wichtig. Heute geht es nicht mehr nur um das eine große Idol, dem man nacheifert, wie vielleicht früher. Vielmehr schaut man heute nach links und rechts und entdeckt starke Persönlichkeiten. Deshalb zeigen wir immer wieder Frauen, die in ganz unterschiedlichen Bereichen tätig sind – ob Opernsängerin oder Masseurin – und geben ihnen eine Stimme. Für mich ist das eine Form des sanften Feminismus. Wir verstehen uns nicht als Zeitschrift, die laut auf die Straße geht oder mit erhobener Faust demonstriert. Viele Frauen in Deutschland haben Berührungsängste mit dem Begriff "Feminismus", weil sie nicht als "Emanze" wahrgenommen werden wollen. Daher zeigen wir lieber stillere, inspirierende Wege auf – durch Frauen, die ihren eigenen Weg gehen und damit Vorbilder sind. Feminismus bedeutet für uns nicht, den ganzen Tag im Hosenanzug herumzulaufen. Es geht darum, sich dieselben Rechte zu nehmen wie Männer – und trotzdem Frau zu bleiben. Genau dieses Selbstverständnis möchten wir auch über unser Schönheitsbild und die Themen im Heft transportieren.

LEADERSNET: Wie definieren Sie persönlich Schönheit?

Nicola Le Vourch: Schönheit ist ganz klar kulturell geprägt – jedes Land, jede Kultur hat ihr eigenes Schönheitsverständnis, dem man sich oft unbewusst anpasst. Für mich geht es dabei jedoch weniger um das Schönsein im klassischen Sinne, sondern vielmehr darum, sich schön zu fühlen. Das ist ein großer Unterschied.
Auch wenn man vielleicht nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht – etwa durch eine untypische Nase, schiefe Zähne oder eine andere Figur – kann man als schön wahrgenommen werden, wenn man innere Stärke und Ausstrahlung hat. Wer mit sich selbst im Reinen ist, sich bewegt, aktiv lebt, gut mit anderen umgeht und sich wohlfühlt, strahlt genau das aus. Schönheit entsteht also nicht nur durch Äußerlichkeiten, sondern vor allem durch Haltung und Lebensgefühl.

LEADERSNET: Jede Printausgabe steht unter einem speziellen Motto. Warum?

Nicola Le Vourch: Wir wählen das Thema jeder Ausgabe sehr bewusst – orientiert an gesellschaftlichen Stimmungen und dem, was in der Luft liegt. Dazu braucht es viel Fingerspitzengefühl: Was bewegt gerade die Menschen? Welche Themen passen zur Saison – schließlich erscheinen wir viermal im Jahr. Das Leitthema steht aktuell ganz am Anfang und dient als roter Faden für die gesamte Ausgabe. Vielleicht entsteht es zu einem späteren Zeitpunkt auch spontan, etwa wenn eine besonders starke Reportage den Ton vorgibt. Wir sind da offen und flexibel.

LEADERSNET: Sie, Frau Le Vourch, pflegen eine lange Verbindung zum Magazin und waren bereits 1994 bei Marie Claire. Was ist geblieben – was hat sich verändert?

Nicola Le Vourch: Was sich seitdem nicht verändert hat, ist der grundlegende Anspruch: Wir möchten Frauen ansprechen, die mehr suchen als nur Mode und Beauty – Frauen, die sich auch für gesellschaftlich relevante Themen interessieren und inhaltlich tiefer eintauchen wollen. Diese Kombination aus Fashion, Beauty und tiefgehenden Reportagen war von Anfang an Teil unserer DNA und ist es auch heute noch. Dabei richten wir uns nicht an eine bestimmte Altersgruppe, sondern an Frauen, die offen, neugierig und engagiert sind. Natürlich hat sich das Umfeld verändert: Damals gab es keine digitalen Medien, und Marie Claire erlangte viel Aufmerksamkeit allein durch Print. Heute muss man sich sichtbarer positionieren, um wahrgenommen zu werden. Deshalb setzen wir in der aktuellen Ausgabe bewusst auf eine besonders hochwertige Haptik, exzellente Gestaltung und starke Bildwelten – unsere ganz eigene Handschrift im Jahr 2025. Wir erscheinen viermal im Jahr, wobei jede Ausgabe ein klares Statement setzt. Das Magazin soll nicht einfach durchgeblättert, sondern bewusst gelesen und gerne auch länger aufbewahrt werden – ähnlich der Wertschätzung, die heute viele für Bücher empfinden. Und natürlich sind wir heute auch digital präsent – auf unserer Website und über unseren Instagram-Kanal. Dort teilen wir aktuelle Themen, News und emotionale Impulse, ganz im Einklang mit den Erwartungen unserer Leserinnen.

Tess Buchele: Von Anfang an war uns klar, dass sich das Leseverhalten stark verändert hat – wie Nicola bereits sagte, ist es heute oft eine bewusste Auszeit vom Bildschirm, ein Moment des Genusses. Genau dafür wollten wir ein Produkt schaffen, das diesem Anspruch gerecht wird. Leserinnen wünschen sich nicht nur inhaltliche Tiefe, sondern auch ein hochwertiges haptisches Erlebnis – kein dünnes Papier, sondern etwas mit Substanz, das sich wertig anfühlt. Wir wollen zeigen: Wir geben uns Mühe – mit Inhalt und Gestaltung. Wie ein Designer auf Details achtet, achten wir auf jedes noch so kleine Element. So verwenden wir beispielsweise für die Fashion- und Beauty-Rubriken festeres Papier als Heftstopper, und das matte Cover sorgt bereits beim ersten Berühren für ein besonderes Gefühl. Für uns macht genau das den Unterschied. Ein Magazin wie Marie Claire ist heute ein bewusst gewählter Begleiter – ein Genussmoment, den man sich gönnt. Und genau dieses Gefühl möchten wir mit unserer Haptik unterstreichen.

LEADERSNET: Welche Marketingmaßnahmen begleiten die Marie Claire?

Tess Buchele: Bereits vor der Erstausgabe im vergangenen September haben wir im Juni den Digitalbereich mit einer Webseite und einem Social-Media-Auftritt gestartet, um in den digitalen Kanälen zu kommunizieren, dass Marie Claire zurück auf dem deutschen Markt ist. Zudem setzen wir stark auf Kooperationen, unter anderem mit Frauen-Business-Netzwerken. Kunst und Kultur sind zentrale Themen für uns – auch in diesem Bereich pflegen wir Kooperationen, etwa mit Ausstellungen und Museen. Darüber hinaus entwickeln wir exklusive Veranstaltungen, wie zum Beispiel Dinner-Events im kleinen Rahmen, das wir gemeinsam mit unseren Kunden veranstalten. Dabei laden sowohl Marie Claire als auch der Kunde Gäste ein. So vermischen sich unterschiedliche Zielgruppen und Gäste, was für beide Seiten bereichernd ist. Auch wir kommen so mit unseren Leserinnen ins Gespräch.

LEADERSNET: Warum ist Ihnen das so wichtig?

Nicola Le Vourch: Aus der Perspektive der Chefredaktion ist es für uns von großer Bedeutung, die Bedürfnisse unserer Leserinnen zu verstehen. Wir haben eine klare Vision, wen wir ansprechen möchten, aber gleichzeitig ist es entscheidend, Feedback zu erhalten und in den Dialog zu treten, um herauszufinden, welche Themen unsere Leserinnen heute sowohl im Print- als auch im digitalen Bereich interessieren. Solche Erkenntnisse lassen sich nur in qualitativ hochwertigen Gesprächen gewinnen, nicht durch Umfragen.

LEADERSNET: Vor wenigen Tagen fand der Marie Claire Prix d’Excellence de la Beauté 2025 statt. Welche Rolle spielt dieser Preis in Ihrem Kosmos?

Nicola Le Vourch: Der Prix d’Excellence de la Beauté ist ein renommierter Preis von Marie Claire International, der in vielen Ländern verliehen wird und auch bereits vor über 20 Jahren in Deutschland vergeben wurde. Nun haben wir ihn wieder zum Leben erweckt. Dieser Preis hat in der Beauty-Industrie einen hohen Stellenwert und wird sehr ernst genommen – das haben wir deutlich an der positiven Resonanz gemerkt.

LEADERSNET: Wenn Sie in eine Glaskugel schauen könnten: Wo sehen Sie den Printmarkt in fünf Jahren?

Tess Buchele: Es wird künftig eine noch stärkere Auslese geben – vor allem nach Qualitätskriterien. Schnelle News, Klatsch und Informationen holt man sich heute überwiegend aus den digitalen Medien. Deshalb glauben wir an einen bewussteren Umgang mit Print. Leserinnen entscheiden sich sehr gezielt für einen Titel – und möchten sich dann auch mit ihm identifizieren und einlassen. Genau diesem Anspruch wollen wir gerecht werden. Print steht für uns heute für Qualität, Entschleunigung und Inspiration – nicht mehr in erster Linie für Information, wie es früher vielleicht der Fall war.

Nicola Le Vourch: Ergänzend zur Optik, ist es uns besonders wichtig, auch inhaltlich herauszustechen. Print wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es sich nicht nur in der äußeren Qualität abhebt, sondern auch durch Inhalte, die Substanz und Tiefe haben. Deshalb setzen wir von Anfang an auf erfahrene, ausgebildete Journalist:innen – Menschen, die ihr Handwerk verstehen. So wie Designer heute im Premiumsegment handwerklich mit hochwertigen Materialien arbeiten, tun wir das auch mit Worten und Themen. Das unterscheidet uns ganz bewusst vom schnellen, beliebigen Content vieler Plattformen oder auch einiger Verlage. Wir verzichten auf Inhalte aus anonymen Content-Pools oder sogenannte Hubs, wie sie vielerorts aus Kostengründen verwendet werden. Für Marie Claire ist das keine Option. Unser Anspruch ist es, ein "handgeschmiedetes" Magazin zu produzieren – mit sorgfältig recherchierten, exklusiven Inhalten, die man nicht gleichzeitig in anderen Titeln findet. Auch KI-generierte Artikel wird man bei uns nicht lesen. Wir legen großen Wert auf Exklusivität: Unsere Geschichten erscheinen in Marie Claire – und nur dort.

Tess Buchele: Und: Marie Claire enthält keinen Beitrag, der nicht einen persönlichen Touchpoint hat – hauptsächlich durch Nicola oder den jeweiligen Autor bzw. die Autorin. Sie waren persönlich vor Ort, haben die Frau oder den Mann im Interview selbst gesprochen. Sie haben die Location besucht, die sie vorstellen – sie sind mit dem Boot gefahren, über das sie schreiben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass genau das für die Leserin spürbar und nachvollziehbar ist.

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