996 statt 9 to 5
Kommt das China-Arbeitszeitmodell auch nach Deutschland?

In der US-Techszene gewinnt ein radikales Arbeitszeitmodell an Einfluss: die sogenannte 72-Stunden-Woche nach chinesischem Vorbild. Vor allem KI-Startups propagieren die 996-Kultur und suchen nach "obsessiven" Arbeitskräften. Doch könnte sich dieser Trend auch in Europa etablieren? Die Diskussion erreicht zunehmend deutsche Unternehmen und deren Führungsetagen.

Was in China begann und durch US-Startups wie Tesla oder Scale AI befeuert wird, könnte sich als neue Herausforderung für europäische Arbeitszeitmodelle entpuppen: Statt einer 4-Tage-Woche setzen immer mehr KI-Unternehmen auf das sogenannte 996-Modell – von neun bis 21 Uhr, sechs Tage die Woche. Die 72-Stunden-Woche wird zur Benchmark in einer Branche, die sich durch Tempo, Innovation und gnadenlosen Wettbewerb definiert.

996-Kultur: Von China über die USA nach Europa?

Die Wurzeln des Modells liegen in der chinesischen Tech-Branche, wo es als inoffizieller Standard für maximale Leistungsbereitschaft gilt. In den USA adaptieren insbesondere KI-Startups dieses System. Das New Yorker Unternehmen Rilla etwa schreibt in seinen Stellenanzeigen offen, dass Bewerber:innen ohne Bereitschaft zur 70-Stunden-Woche sich nicht bewerben sollten. Auch Elon Musk gilt als prominenter Befürworter intensiver Arbeitszeiten. "Niemand hat jemals die Welt mit 40 Stunden pro Woche verändert", schrieb er einst auf seiner Plattform X.

Laut Karriereexperte Keith Spencer empfinden manche Berufseinsteiger:innen das Modell sogar als reizvoll, solange Boni oder Aufstiegschancen winken. Besonders in Hochleistungsbranchen wie KI trifft das auf fruchtbaren Boden. Doch genau hier entstehen auch Risiken, wie Umfragen zeigen. Laut eines Berichts von FOCUS Online setzen immer mehr US-Startups auf chinesisch inspirierte Arbeitszeitmodelle.

Burnout-Risiko für Fachkräfte nimmt zu

Laut einer Umfrage des Karrierenetzwerks Blind berichten knapp 60 Prozent der Tech-Angestellten von Symptomen wie Erschöpfung, Schlafstörungen und Angstzuständen. "Das Rennen um KI treibt Ingenieure an ihre Grenzen – viele arbeiten 70+ Stunden und fühlen sich trotzdem hinterher", warnt Tech-Analyst Gergely Orosz im Gespräch mit CNBC. Die WHO unterstreicht die Risiken: Arbeitszeiten über 55 Stunden pro Woche erhöhen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 35 Prozent. Auch die psychischen Belastungen durch den wachsenden Einsatz von KI-Anwendungen in der Arbeitswelt geraten zunehmend in den Fokus – insbesondere dort, wo Tempo und Innovationsdruck überdurchschnittlich hoch sind.

Hinzu kommt, dass die USA keine gesetzliche Obergrenze für Arbeitszeit kennen. In Europa sieht das anders aus – zumindest noch. Denn durch den globalen Wettbewerbsdruck steigt auch hier der Druck auf Flexibilität und Verfügbarkeit. In deutschen Unternehmen wird das Thema zwar (noch) vorsichtiger diskutiert, doch einige Stimmen in der Tech- und Startup-Szene beobachten die Entwicklung genau.

Europas Antwort: 4-Tage-Woche oder Hybridmodelle?

Während die IG Metall in Deutschland kürzere Arbeitszeiten für die Industrie fordert, gehen andere europäische Unternehmen experimentelle Wege. Die niederländische Firma Basecamp testet erfolgreich die 4-Tage-Woche mit 32 Stunden. Erste Studien zeigen: Produktivität und Zufriedenheit steigen, ohne dass die wirtschaftliche Leistung sinkt.

Doch könnte das 996-Modell auch hierzulande Fuß fassen? Denkbar wäre ein hybrider Ansatz: leistungsorientierte Branchen mit mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, flankiert von Schutzmechanismen gegen Überarbeitung. Die Frage bleibt, ob die europäische Arbeitskultur bereit ist, diesen Spagat mitzugehen.

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