European Publishing Congress: "Jeder dritte Printtitel ist in seiner Existenz gefährdet"

Im Palais Niederösterreich in Wien traf sich die Elite der europäischen Medienmacher:innen, dabei wurden auch die "European Publishing Award"-Gewinner ausgezeichnet. LEADERSNET.tv hat mit den Protagonist:innen über die aktuelle Situation in der Branche gesprochen.

Wien war am Montag Schauplatz einer der wichtigsten Medien-Tagungen des Kontinents: Knapp 300 Chefredakteur:innen und Führungskräfte europäischer Medienhäuser versammelten sich im traditionsreichen "Palais Niederösterreich" in der österreichischen Hauptstadt zum "European Publishing Congress", um über den Status-quo und die Zukunft der Branche zu sprechen, zu diskutieren und sich auszutauschen.

Zu wenige Menschen mit "unbürgerlichen" Biographien

Eröffnet wurde der Kongress von Julia Becker, Aufsichtsratsvorsitzende und Co-Eignerin der Funke Mediengruppe, mit einer Keynote zum Thema "Medien im Meinungskrieg". Darin zeigte sich die Verlegerin durchaus selbstkritisch: "Die Sparrunden der Verlage in der Vergangenheit haben unverhältnismäßig stark die Redaktionen getroffen und dazu geführt, dass zum Beispiel das Netz der Lokalredaktionen immer mehr ausgedünnt wurde. Das war ein Fehler." Auch mit der Zusammenstellung vieler Redaktionen zeigte sich die Funke-Verlegerin nicht zufrieden. "Wir haben allzu häufig versäumt, uns in den Redaktionen so bunt aufzustellen, wie unsere Gesellschaft heute ist." So gäbe es zu wenig Frauen, Personen mit Migrationshintergrund und Menschen mit "unbürgerlichen" Biographien.

Kritisch sieht Becker auch die "Klick-Logik" vieler Redaktionen, bei der exakt gemessen wird, wie viele Menschen einen Text aufrufen, wie lange und bis zu welchem Absatz sie ihn lesen, ob er Abos generiert hat und wie er in den unterschiedlichen Kanälen "trendet". In dieser Entwicklung liege eine Gefahr der Boulevardisierung, Skandalisierung und "Blaulichtisierung". "Datenorientiert arbeiten ist auf jeden Fall sinnvoll, datengetrieben ganz bestimmt nicht", sagte Becker.

Die wichtigsten Medientrends des Kontinents

Im Anschluss folgte noch eine Reihe spannender und aufschlussreicher Vorträge und Podiumsdiskussion. Ippen-Digital-CTO Markus Franz etwa sprach über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Redaktionen, während Nico Wilfer von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ebenfalls über KI referierte, aber im Hinblick auf den Lesermark. Um das Thema Paid Content drehten sich hingegen die Vorträge des niederländischen Journalisten GerBen van 't Hek vom Mediahuis sowie Jochen Wegner und Christian Röpke von der Zeit." Van 't Hek gewährte dabei einen Einblick in "Eine der größten digitalen Erfolgsgeschichte im Regionalen", während Wegner und Röpke einige der Erfolgsgeheimnisse des Bezahlmodells der Zeit lüfteten.

Nach der Mittagspause gehörte die Diskussion "Was macht Desinformation mit uns – und wie gehen wir damit um?" unter der Leitung von Medium-Magazin-Herausgeberin Annette Milz zu den Highlights. Zeitungsdesigner Norbert Küpper hingegen hatte die Besucher:innen mit seinem Vortrag zu den wichtigsten Medientrends Europas auf seiner Seite. Zu den weiteren Redner:innen am Nachmittag gehörten unter anderem Marco Grieco vom portugiesischen Expresso, Lillian Holden vom norwegischen Hallingdølen, sowie Martin Vetterli und Andreas Thut vom eidgenössischen Beobachter.

Signifikanter Rückgang an Anzeigen

"Hubert Burda Media Holding"-Vorstand Philipp Welte legte bei seiner Dinner Speech am Abend den Finger in die Wunde: "Viele Verlage wissen bis heute nicht, auf welchem Papier sie im dritten oder vierten Quartal ihre Zeitschriften drucken sollen." Doch nicht nur die Produktion ihre Zeitschriften mache den Verlegern derzeit Sorgen. Im Werbemarkt schlage sich die aktuelle Unsicherheit in einem signifikanten Rückgang bei den Anzeigen nieder und die massive Marktmacht von Google, Amazon und Facebook tue ihr Übriges.

"Wir haben es zu tun mit einer bisher nie dagewesenen Kombination von strukturellen Veränderungen und massiven aktuellen Bedrohungen. Und im Ergebnis mit einer erschreckenden Erkenntnis: Die einzigartige Vielfalt der freien, journalistischen Medien, die die Verlage in Europa geschaffen haben, ist ökonomisch substanziell bedroht", warnte der Vizepräsident des Medienverbandes der freien Presse (vormals VDZ). Welte geht davon aus, dass auf dem deutschen Markt jedes dritte gedruckte Medienangebote in seiner Existenz gefährdet ist.

Die wirtschaftliche Dimension der Gefährdung sei aber nur der eine Teil. "Die andere Gefahr wächst und wuchert viel tiefer – wie ein Geschwür in unserer demokratischen Kultur. Es ist die Bedrohung der Freiheit des Denkens, der Meinungen, eine Bedrohung der Toleranz", warnte Welte in Wien und kritisierte massiv die Politik. "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Politik die Rolle der freien Presse nicht mehr versteht – oder nicht verstehen will."

Die Gewinner der "European Publishing Awards"

Den Abschluss des Kongresses bildete schließlich das "Winners Dinner", bei dem die "European Publishing Award"-Gewinner ausgezeichnet wurden. Als "Magazine of the Year" wurde der Beobacher aus der Schweiz gekürt, während die Auszeichnung "Newcomer of the Year" an Kissed von der deutschen UNA Glitzastein GmbH ging. "Digital Publishing Platform of the Year" darf sich hingegen der "OECD COVID-19 digital hub" nennen. Alle Sieger finden Sie HIER.

Die besten Fotos des "European Publishing Congress 2022" finden Sie in unseren insgesamt vier Fotogalerien. Interviews mit Philipp Welte, Annette Milz, Markus Franz, VÖZ-Geschäftsführer Gerald Grünberger, Mediaprint-Manager Thomas Kralinger, Brau-Union-Österreich-Sprecherin Gabriela Maria Straka und anderen Entscheider:innen aus der Medienbranchen gibt es HIER zu sehen. (as)

www.publishing-congress.com

Sollten Sie das Video nicht abspielen können, klicken Sie bitte hier!
Datenorientiert arbeiten ist auf jeden Fall sinnvoll, datengetrieben ganz bestimmt nicht… - das ist absolut richtig!!!

Kommentar schreiben

* Pflichtfelder.

leadersnet.TV