Zeitweise war der Mailänder Wert sogar den großen Leitindizes Euro Stoxx 50 und S&P 500 überlegen. ETF-Daten zeigen, dass der FTSE MIB über mehrere Jahre deutlich zweistellige Zuwächse verzeichnete und damit andere europäische Standardindizes hinter sich ließ.
Für Anleger stellt sich die Frage: Wie tragfähig ist dieses in den Medien als "Börsenwunder" bezeichnete Phänomen?
Mailand profitiert jedenfalls von einem Stimmungsumschwung, den die meisten Investoren dem Land lange nicht zugetraut hätten. Dieser Umschwung ist kein Zufall. Dahinter steckt eine Kombination aus europäischem Geld, etwas robusteren Konjunkturdaten und einer Politik, die weniger chaotisch wirkt, als es der Ruf italienischer Regierungen vermuten lässt. Es ist kein Wirtschaftswunder – aber eine Stabilisierung, die den Kapitalmarkt beeindruckt.
EU-Gelder, Konjunktur, Schulden – was sich wirklich geändert hat
Der wichtigste Baustein dieser neuen Stabilität sitzt in Brüssel: Italien ist der größte Empfänger aus dem europäischen Wiederaufbaufonds. Über den Recovery and Resilience Facility (RRF) stehen dem Land bis 2026 rund 191,5 Milliarden Euro zur Verfügung – ein Paket, das Digitalisierung, Infrastruktur, Energienetze und den grünen Umbau der Wirtschaft finanzieren soll. In der Praxis wirkt dieses Programm wie ein mehrjähriger Investitionsmotor.
Das ist in den Konjunkturdaten bereits sichtbar. Der Internationale Währungsfonds hält fest, dass Italiens reale Wirtschaftsleistung inzwischen deutlich über dem Vorkrisenniveau liegt; Anfang 2024 lag das BIP rund viereinhalb Prozent über dem Stand vor der Pandemie – stärker als in anderen großen Euro-Ländern.Gleichzeitig ist es Rom gelungen, die Defizite spürbar zu senken: Laut IMF und Reuters fiel das Defizit von knapp neun Prozent des BIP im Jahr 2021 auf gut 3,4 Prozent 2024; für die kommenden Jahre peilt die Regierung die Rückkehr unter die Drei-Prozent-Grenze an.
Die Schuldenquote bleibt zwar hoch – Schätzungen gehen von rund 135 bis 140 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung aus –, aber sie steigt nicht mehr unkontrolliert, sondern wird durch Wachstum und Inflation leicht relativiert.Für ein Land, das jahrelang vor allem als Risiko galt, ist das eine entscheidende Verschiebung: Italien ist nicht plötzlich kerngesund, aber es ist erkennbar weit weg vom Rand des Abgrunds.
Warum die Kapitalmärkte Italien neu bewerten
Diese Veränderung schlägt sich direkt in der Wahrnehmung der Ratingagenturen nieder. Fitch hat Italiens Bonität im September 2025 von "BBB" auf "BBB+" angehoben, den Ausblick auf „stabil“ gesetzt und explizit auf eine verbesserte fiskalische Resilienz verwiesen. Moody’s hält Italien ebenfalls im Investment-Grade-Bereich und hat den Ausblick zuletzt verbessert.
Für den Staat bedeutet das: geringere Risikoaufschläge auf Staatsanleihen, stabilere Refinanzierung, weniger Dauerpanik um die Schuldentragfähigkeit. Für den Aktienmarkt heißt es: Wenn die Risikoaufschläge sinken, profitieren vor allem Banken und Versicherer – und die sind in Italien traditionell stark vertreten.
Hinzu kommt die Politik. Die Regierung unter Giorgia Meloni sorgt – allen ideologischen Streitfragen zum Trotz – für ein Maß an Kontinuität, das Italien lange nicht kannte, auch wenn Ökonomen in Le Monde darauf hinweisen, dass ein Teil der scheinbaren Stabilität auf temporären EU-Geldern und Sondereffekten beruht. Für internationale Investoren, die kaum ein Land so sehr mit politischer Volatilität verbinden wie Italien, ist schon das eine Nachricht.
Was im FTSE MIB tatsächlich steckt
Wer auf Italien setzt, setzt nicht auf ein abstraktes Narrativ, sondern auf einen sehr konkreten Index. Der FTSE MIB bündelt die 40 wichtigsten an der Borsa Italiana gelisteten Unternehmen; sie werden nach Free-Float-Marktkapitalisierung gewichtet und bilden einen Querschnitt durch die zentralen Branchen des Landes. Knapp die Hälfte der Marktkapitalisierung entfällt auf Finanzwerte: Großbanken wie Intesa Sanpaolo und UniCredit, Versicherer wie Generali. In Factsheets großer ETFs auf den Index liegen Finanzdienstleistungen bei rund 45 Prozent, Versorger bei gut 15 Prozent
Diese Institute profitieren von zwei Entwicklungen zugleich: von Zinsmargen, die trotz sinkender Leitzinsen noch attraktiv sind – und von Staatsanleiheportfolios, die nicht mehr permanent unter Feuer stehen. Je weniger Zweifel es an der Tragfähigkeit italienischer Schulden gibt, desto ruhiger wird das Geschäftsmodell.
Daneben spielen Energie- und Versorgerkonzerne eine zentrale Rolle. Enel, Eni und andere Unternehmen sind direkte Profiteure der EU-Investitionsgelder, etwa beim Ausbau von Netzen, erneuerbaren Energien und Infrastruktur, wie offizielle Projektlisten im Rahmen des National Recovery and Resilience Plan zeigen. Dazu kommen Industriewerte und der Rüstungskonzern Leonardo, der von den massiv steigenden Verteidigungsausgaben in Europa profitiert. Der Index ist damit ein konzentrierter Mix aus Finanzsektor, Energie, Infrastruktur und Verteidigung – und weniger ein Querschnitt durch innovative Wachstumswerte. Wer hier einsteigt, kauft bewusst diese Struktur.
Die Kehrseite: Schulden, Politik, Demografie
So eindrucksvoll die Kursentwicklung wirkt: Italien bleibt kein Selbstläufer. Die Wachstumsraten liegen in den Prognosen großer Institutionen weiterhin nur knapp über der Nulllinie; der IWF rechnet für die kommenden Jahre im Durchschnitt mit Wachstumsraten von rund 0,7 bis 1 Prozent. Und: Die Schuldenquote ist nach wie vor eine der höchsten der Eurozone, und strukturelle Probleme wie schwache Produktivitätszuwächse und eine alternde Bevölkerung bleiben ungelöst.
Hinzu kommen die bekannten politischen Risiken. Verfassungsreformen, Machtverschiebungen, Spannungen zwischen Rom und Brüssel – all das kann jederzeit wieder aufpoppen. Wer auf Italien setzt, kauft deshalb immer auch einen Teil politischer Unsicherheit.
Die Rally des FTSE MIB ist also weniger Ausdruck eines neuen italienischen Wunders als Ergebnis eines Repricings: Ein Land, das lange als Problemfall gehandelt wurde, wird wieder wie ein normales, wenn auch hoch verschuldetes Euroland bewertet. Das kann sich auszahlen – ist aber kein Versprechen auf risikolose Extrarendite.
Wie Anleger den Italien-Faktor ins Depot holen
Für Anleger, die die Entwicklung Italiens spielen wollen, ist der Einstieg technisch einfach. Am naheliegendsten sind ETFs auf den FTSE MIB.
Große Anbieter wie BlackRock und DWS bieten entsprechende Produkte an: iShares und Xtrackers bilden über physische Replikation die 40 Indexwerte ab, die laufenden Kosten liegen jeweils bei rund 0,30 Prozent pro Jahr. Wer stärker selektiv vorgehen will, kann gezielt auf Einzeltitel setzen – etwa auf große Banken, Versorger oder internationale Qualitätsnamen aus Italien. Das erhöht aber die Analyseanforderungen erheblich. Wer sich darauf einlässt, muss nicht nur Italien verstehen, sondern auch die jeweilige Bilanz- und Regulierungslage.
Dann wäre da noch das viele Gold
Während Italien versucht, sich aus der Rolle des Risikolandes herauszuarbeiten, erlebt ein anderer Klassiker der Geldanlage einen eigenen Höhenflug: Gold. Der Preis hat in den vergangenen Jahren eine Serie von Rekorden markiert, Zentralbanken kaufen so viel wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Laut World Gold Council erreichte die Nettokaufmenge der Notenbanken 2024 mit gut 1.045 Tonnen einen historischen Höchststand, die Gesamtnachfrage inklusive OTC-Geschäften lag bei knapp 4.974 Tonnen.
Damit ist Gold mehr denn je das, was italienische Staatsanleihen über lange Zeit nicht waren: ein Vertrauensanker. Es zahlt keine Zinsen, schüttet keine Dividenden aus – aber es verspricht, unabhängig von Staatsfinanzen, Notenbanken und Haushaltsdebatten seinen Wert zumindest langfristig zu bewahren.
Interessant ist dabei, dass ausgerechnet Italien eine besonders große Goldposition hält. Die Banca d’Italia verweist auf Goldreserven von rund 2.452 Tonnen; Analysen schätzen den aktuellen Marktwert auf deutlich über 250 Milliarden Euro, was etwa 13 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht.
Wem gehört das Gold?
In den vergangenen Monaten sorgten Gesetzesinitiativen, die das Gold offiziell zum "Eigentum des Volkes" erklären wollten, sogar für kritische Nachfragen der EZB, die jede politische Einflussnahme auf die Notenbank strikt ablehnt.
Innenpolitisch flammt immer wieder die Frage auf, ob dieses Metall im Zweifel zur Entlastung des Staatshaushalts herangezogen werden könnte. Offiziell betont Rom die Unabhängigkeit der Notenbank – und damit auch, dass Gold nicht als Notnagel für den Staatshaushalt gedacht ist. Für internationale Investoren bleibt es dennoch ein symbolischer Sicherheitspuffer.
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