Digitale Medien, disruptive Technologien und die Macht der Algorithmen bestimmen zunehmend unser Leben – doch nur wenige verstehen ihre komplexen Mechanismen so tiefgreifend wie Martin Andree. Als Wissenschaftler und Medienanalytiker, als Gründer innovativer KI-Start-ups und erfahrener Marketingstratege an internationalen Schauplätzen vereint Andree wissenschaftliche Expertise mit unternehmerischer Schaffenskraft.
Nach Stationen an der Universität zu Köln, Cambridge und der Harvard Business School sowie führenden Positionen bei Henkel hat er mit AMP Digital Ventures maßgebliche Impulse für den Einsatz von künstlicher Intelligenz im Marketing gesetzt und beschäftigt sich heute als Professor mit den gesellschaftlichen Folgen der digitalen Transformation.
Seine Bücher, darunter der Bestseller "Big Tech muss weg!" und das jüngste Werk "Krieg der Medien", beleuchten die Schattenseiten der Tech-Giganten und die neue Front digitaler Auseinandersetzungen.
LEADERSNET: Heute kontrollieren fünf Konzerne über 80 Prozent des digitalen Werbemarktes und beeinflussen die Meinungsbildung von Milliarden Menschen. In Ihrem Buch "Big Tech muss weg!" fordern Sie eine radikale Zerschlagung dieser Monopole. Was müsste konkret geschehen, damit aus dieser Forderung mehr wird als ein intellektuelles Gedankenspiel – und warum scheitern selbst die ambitioniertesten Regulierungsversuche der EU bisher an der Realität?
Martin Andree: "Zerschlagung" klingt immer so destruktiv – die von mir vorgeschlagenen Maßnahmen sind dagegen balanciert und marktöffnend gestaltet, also etwa: Öffnung der Plattformen für Outlinks, so dass auch Traffic außerhalb der Plattformen stattfinden kann; Verbot der unfairen Selbst-Zuteilung von Traffic durch die großen Gatekeeper; Durchsetzung offener Standards, was alternativen Plattformen starken Rückenwind bringen und vor allem auch die vielen YouTuber und Streamer aus der Abhängigkeit befreien würde; zuletzt das Verbot der Monetarisierung strafbarer Inhalte.
Dieses Rechtsprivileg der Plattformen ist ja sowieso der Wahnwitz. Nirgendwo sonst erlauben wir es millliardenschweren Wirtschaftsakteuren, mit strafbaren Inhalten Geld zu verdienen.
Die aktuellen Regelungen der EU haben leider verschiedene Defizite. Sie wurden konzipiert zu Zeiten einer funktionierenden transatlantischen Allianz und der Grundannahme, die Tech-Konzerne seien seriöse, anständige Unternehmen, die die demokratische Souveränität Europas und rechtsstaatliche Prinzipien achten. Beide Bedingungen sind aktuell nicht gegeben.
LEADERSNET: In "Krieg der Medien" sprechen Sie von einer neuen Front digitaler Auseinandersetzungen. Wie bewerten Sie die Rolle der sozialen Medien bei der Verbreitung von Populismus, und wie kann die Gesellschaft dem medialen "Dark Tech" effektiv begegnen?
Martin Andree: Jeder, der auf den Plattformen unterwegs ist, spürt schon im Alltag, dass sie Hass, Hetze und Häme algorithmisch boosten, so die Polarisierung der Gesellschaft verstärken und radikalen Parteien Rückenwind verschaffen. Dass die Inhaber der Plattformen erstens eine Koalition mit der Trump-Regierung eingegangen sind und beide Seiten – Tech und Trump – aktiv einerseits Europas digitale Souveränität frontal angreifen und andererseits in Europa rechtspopulistische Parteien aktiv unterstützen, ist mittlerweile auch offensichtlich.

Martin Andrees aktuelles Werk "Krieg der Medien" (Bild: Campus Verlag)
Gesellschaftlich haben wir die dramatische Bedrohung dieser antidemokratischen Verklumpung sehr starker Partner aber noch nicht verstanden. Diese ist längst nicht mehr nur Thema für Digital-, Medien- und Wirtschaftspolitik, hier geht es längst um innere Sicherheit. Um hier eine gesellschaftliche Debatte zu bewirken, habe ich dieses Buch geschrieben.
Das US-Außenministerium nennt die rechtspopulistische Parteien Europas bereits "zivilisatorische Alliierte". Und diese Allianz macht täglich große Fortschritte. Deshalb auch der dystopische Untertitel: "Dark Tech und Populisten übernehmen die Macht". Wenn wir diesen Stier nicht bei den Hörnern packen, wir genau das sehr bald eintreten.
LEADERSNET: Sie stammen aus einer akademischen Laufbahn, haben aber auch umfangreiche Praxiserfahrung im Management. Welchen Rat geben Sie jungen Wissenschaftlern, die heute im dynamischen Feld digitaler Innovationen Fuß fassen möchten?
Martin Andree: Jede Vita nimmt ihren eigenen Weg, und jeder Weg hat seine Berechtigung. Ich habe damals, Ende der neunziger Jahre, bei Beendigung meines Studiums als junger Mensch gemerkt: Die Digitalisierung wird unsere gesamte Gesellschaft umformatieren. Und ich hatte damals auch das Gefühl: Ich werde das nicht wirklich verstehen, wenn ich digitale Systeme nicht auch selbst gestalte und ihre Funktionalität von innen beobachten kann.
Deswegen habe ich diesen Weg gewählt und beides gemacht: Eine Karriere in der Wirtschaft und zugleich weitergeforscht und mich an der Uni Köln habilitiert. Das war einerseits eine echte Kraftanstrengung, zweitens führt dieser ungewöhnliche Weg auch immer wieder zu Reaktanzen. Aber ich habe damit meinen Frieden gefunden. Ich hätte ein wissenschaftliches Werk wie den "Atlas der digitalen Welt" ohne meine digitale Lernkurve in der Wirtschaft nie hinbekommen.
LEADERSNET: Die Evolution digitaler Medien führt oft zu disruptiven Veränderungen. Können Sie uns ein konkretes Beispiel aus Ihrer Forschung oder Arbeit nennen, bei dem eine technologische Neuerung eine unerwartete mediale oder soziale Wirkung entfaltet hat?
Martin Andree: Aus der Perspektive meiner Forschung würde ich sagen: Die Erzählung der "disruptiven Veränderungen" ist ja nur ein Teil der Wahrheit. Unter den Bedingungen der digitalen Monopole gilt ja auch: Diese Veränderungen werden einseitig von den Tech-Konzernen gesetzt, und wir rennen dann alle wie blinde Schafe auf Gedeih‘ und Verderb hinterher.
Am Beispiel erklärt: Erst erzählt uns Google "Stellt relevante Inhalte ins Netz und macht SEO, dann kommt die Sichtbarkeit von selbst". Wir haben alle an diese "Partnerschaft" geglaubt und genau das getan. Und sitzen in der Falle. Denn jetzt schaltet Google durch die AI Overviews uns allen den Traffic einfach ab.

Martin Andree (Bild: Thomas Fedra)
Auch das ist eine der Kernthesen meines Buchs: Offene Märkte und fairer Wettbewerb sind unter diesen Bedingungen der digitalen Besatzung und einseitigen Setzungsmacht ja gar nicht mehr gegeben. Ich kann nicht verstehen, dass ausgerechnet wirtschaftsliberal denkende Menschen hier nicht auf die Barrikaden gehen. Die Wirtschaft verbrennt hier seit Jahrzehnten Unsummen.
Erinnern Sie sich noch an die Akquisition von Dollar Shave Club durch Unilever? Eine Milliarde hat Unilever dafür gezahlt. Und ist genauso gescheitert wie andere, ähnliche D2C-Akquisitionen. Nur die Tech-Konzerne gewinnen das Spiel immer – denn sie dürfen nicht nur mitspielen, sondern auch noch die Spielregeln nach Belieben setzen und verändern.
LEADERSNET: Ihr "Atlas der digitalen Welt" kartografiert die neuen Machtverhältnisse. Dabei wird deutlich: Während Europa reguliert, innoviert China und die USA dominieren. Sie haben in Los Angeles und im Mittleren Osten gearbeitet – welche kulturellen Unterschiede im Umgang mit digitaler Transformation haben Sie am meisten überrascht und was kann Europa von anderen Regionen lernen, ohne seine Werte zu verraten?
Martin Andree: Das Meme "US innovates – China replicates – EU regulates" wird in meinem neuen Buch ebenfalls als lobbyistische Erzählung entlarvt. Das neue Buch zeigt sehr ausführlich, dass die Monopole nur entstehen konnten, weil wir den Tech-Konzernen massive Privilegien und rechtliche Vorzugsbehandlungen eingeräumt haben. Der Grundfehler besteht schon darin, dass wir sie nicht als Medien, sondern als Netzwerke regulieren – wir ihnen aber zugleich erlaubt haben, Inhalte zu monetarisieren wie alle anderen Medien auch.
Aus diesem Intermediärsprivileg folgt dann das Haftungsprivileg (Plattformen müssen keine Verbreiterhaftung übernehmen) und das Straftatenprivileg, mit kriminellen Inhalten Geld verdienen zu dürfen. Dann das Einsperrprivileg: Plattformen dürfen quasi digitale Mauern errichten, welche die User daran hindern, alternative Angebote zu nutzen; etwa durch Herunterregelung von Outlinks oder durch geschlossene Standards.
Oder das Monopolprivileg: bei demokratierelevanten analogen Mediengattungen, etwa beim Fernsehen, gibt es Marktanteilsobergrenzen, hier nicht. Durch diese Rechtsprivilegien und Fehlregulierungen werden die Monopole erst ermöglicht und dann fixiert.
Das erkennt man übrigens auch daran, dass die Situation überall dieselbe ist, also auch in Kanada, Australien, der Schweiz, Großbritannien. Weil es eben keine offenen Märkte und keinen fairen Wettbewerb gibt. Die Tech-Konzerne haben die freie Marktwirtschaft des Kapitalismus längst abgeschafft – aber ausgerechnet die Kapitalisten scheinen das nicht zu verstehen. Ist eigentlich irre.
LEADERSNET: Lassen Sie uns kurz die Perspektive wechseln und über akademische Systeme sprechen, die ja ebenfalls von Narrativen geprägt sind: Sie haben sowohl an deutschen Universitäten (Köln und Münster) studiert, aber auch in Cambridge geforscht und Erfahrungen an der Harvard Business School gesammelt. In den internationalen Universitäts-Rankings findet sich in den Top 20 keine deutschen Vertreter. Wie haben Sie die Differenzen erlebt?
Martin Andree: In meiner Wahrnehmung wurde sowohl in Cambridge als auch in Harvard inhaltlich auch nur „mit Wasser gekocht“. Die Inhalte sind gar nicht so spektakulär, aber die Angelsachsen verstehe es leider immer viel besser als wir Kontinentaleuropäer, diese Inhalte so unglaublich toll „auszuschmücken“, dass es nach außen gigantisch wirkt.
Wenn man bedenkt, welche Zusatz-Umsätze Harvard erzielt, indem es die Strahlkraft der eigenen Marke in der Harvard Business School etwa durch sehr verdichtete Angebote für Top-Manager kapitalisiert, versteht man auch, dass deutsche Universitäten hier leider große finanzielle Potenziale liegenlassen.
Für mich war aber immer die Qualität der Inhalte entscheidend. Als ich damals in Cambridge studiert habe, hatte man mir angeboten, ich könne auch dort bleiben und promovieren – ich habe mich damals dagegen entschieden, weil ich das wissenschaftliche Niveau an der Universität Köln in meinem Fachbereich deutlich höher fand. Das hat zwar in Cambridge für einige Verwunderung gesorgt (denn sie denken dort natürlich, dass sie die "best of the best" sind), aber auch das war meiner Wahrnehmung nach eine gute Entscheidung.
LEADERSNET: Steve Jobs sagte einmal, Innovation entstehe dort, "wo Kunst und Technologie sich kreuzen". Was treibt Sie persönlich mehr an – die intellektuelle Faszination für die digitale Evolution oder der Wunsch, diese aktiv mitzugestalten?
Martin Andree: Das ist eine interessante Frage – ich bin zwar Wissenschaftler, sehe mich aber immer auch irgendwie als Kreativen und als Gestalter. Deswegen denke ich immer in Projekten, die ich selbst gestalten kann und die ich selbst innovativ finde. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich mir dieses hybride Setup gebaut habe, in dem ich einerseits an der Uni Köln lehren und forschen kann, aber andererseits im eigenen Unternehmen aktiv bin. Tatsächlich kann ich so auch wissenschaftliche Projekte oft schneller und agiler umsetzen.
Zugleich weiß jeder, der in Märkten tätig ist, wie schwer es ist, Menschen "da draußen" für die eigenen Inhalte und Themen zu interessieren. Mein unabhängiges Setup zwingt mich also auch dazu, immer in Projekten zu denken, die gesellschaftlich relevant sind und sie dann so aufzubereiten, dass die Inhalte für die Menschen möglichst verständlich sind. Man muss sich so immer wieder neu selbst kritisch infrage stellen und vor allem sich selbst der Sache unterordnen. Das ist zwar anstrengend, aber das finde ich ganz in Ordnung so.
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