Als langjähriger Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Magdeburg hat Bernhard Bogerts die Forschung über Schizophrenie, psychisch bedingte Gewalttaten und neurobiologische Risikofaktoren entscheidend mitgeprägt – und dabei nie die Brücke zur gesellschaftlichen Realität verloren. Wenn Extremisten durchdrehen, Verschwörungstheorien in Gewalt umschlagen oder Täter als "psychisch auffällig" gelten, wird seine Expertise gefragt. Doch er warnt davor, psychische Erkrankungen zu pauschalisieren.
LEADERSNET: Sie haben in Ihrer Laufbahn das Gehirn von Ulrike Meinhof untersucht – ein Fall, der 2002 internationale Schlagzeilen machte. Wenn Sie heute, über 20 Jahre später, auf diese kontroverse Untersuchung zurückblicken: Inwieweit können hirnorganische Veränderungen tatsächlich extremistische Gewalt erklären – und wo beginnt die Verantwortung des Individuums trotz möglicher neurobiologischer Defizite?
Bernhard Bogerts: Die meisten Formen von Gewalt, auch extremistische Gewalt, sind auf ein komplexes Gefüge vielfältiger ineinandergreifender Ursachen zurückzuführen. Einfache monokausale Erklärungsversuche greifen zu kurz. Wichtige interagierende Teilursachen sind traumatisierenden Erlebnisse in Kindheit und Jugendzeit, insbesondere eigene Gewalterfahrung, fehlende Vermittlung ethisch-moralischer Normen, aktuelles soziales Umfeld (peer group), extreme psychische Stressoren, gewaltrechtfertigende Ideologien aber auch psychisch Störungen einschließlich Psychosen, Suchtkrankheiten und – wie im Falle Meinhof – hirnorganische Veränderungen. In der Regel müssen mehrere dieser Teilursachen zusammenkommen, um eine Gewaltkarriere entstehen zu lassen. Ein wesentlicher, lange Zeit übersehener Teilfaktor liegt auch in der Erbanlage. Mehrere Übersichtsarbeiten und Metaanalysen bestätigen, dass etwa 50 Prozent des vielfältigen Ursachengefüges von Gewalt genetisch bedingt ist. Zur Gewalt disponierende Gene entfalten aber ihre Wirksamkeit nur dann, wenn kindliche Traumatisierungen oder Vernachlässigungen hinzukommen.
LEADERSNET: Dieses Zusammenspiel von Anlage und Umwelt führt uns zu einer fundamentalen Frage: "Das Gehirn ist ein Spiegel der Erfahrung" – Wie stark prägen traumatische Kindheitserlebnisse tatsächlich die Hirnstruktur, und welche neurobiologischen Spuren hinterlassen sie bei späteren Gewalttätern?
Bernhard Bogerts: Das kindliche Gehirn weist ein hohes Maß an Plastizität auf, das heißt Struktur und Funktion werden bei der Entwicklung des Gehirns nicht nur von den Genen, sondern auch von der Intensität und Art der Hirnaktivierung geprägt, mit lebenslangen Folgen für das Verhalten. Zum Beispiel lassen sich bei Patienten mit Borderline-Syndrom, die oft erhebliche traumatisierende Kindheitserlebnisse hatten, mit hirnbildgebenden Verfahren strukturelle und funktionelle Defizite in Hirnregionen nachweisen, die für emotionale Stabilität wichtig sind. Auch können anhaltende Stressoren während der Kindheit über epigenetische Mechanismen zu einer verminderten Synthese von Proteinen im Hirn führen, die für Stressregulation und für Nervenwachstum erforderlich sind. Etwa die Hälfte inhaftierter Gewalttäter berichtet über schwere körperliche oder seelische Misshandlung während der Kindheit.
LEADERSNET: Mit über 34.000 Zitationen gehören Sie zu den meistzitierten Psychiatern weltweit. In Ihren Forschungen konnten Sie strukturelle Defizite in limbischen Hirnarealen bei verschiedenen psychischen Störungen nachweisen. Können Sie uns erklären: Welche spezifischen Hirnregionen sind bei gewalttätigen Individuen verändert, und warum entwickeln manche Menschen trotz ähnlicher neurobiologischer Voraussetzungen keine aggressiven Tendenzen?
Bernhard Bogerts: Es gibt mittlerweile über hundert computertomografische oder kernspintomografische Untersuchungen an Hirnen von Gewalttätern. Die Befunde konvergieren dahingehend, dass vor allem bei reaktiven Gewalttätern Struktur- und Funktionsdefizite in den vorderen und unteren Arealen des Stirnhirns und Schläfenhirns anzutreffen sind. Dort liegen die zentralen limbischen Strukturen, die für die emotionale Verarbeitung von allem Wahrgenommenen und die folgenden Reaktionsweisen verantwortlich sind. Das untere Stirnhirn – das übrigens bei Frauen besser funktioniert – hat gewalthemmende Funktion. Defizite in diesen Hirnbereichen können aber nur als erhöhte Disposition zu Aggressivität und Gewalt angesehen werden, die bei Hinzukommen der anfangs erwähnten zusätzlichen Teilfaktoren, eine aggressive Handlung zur Folge haben kann. Mit anderen Worten: Aggressives Verhalten resultiert aus einem Zusammentreffen von genetischer oder biografischer oder hirnbiologischer Disposition mit psychosozialen Stressoren.
LEADERSNET: Diese differenzierte Betrachtung ist besonders wichtig, wenn wir über gesellschaftliche Vorurteile sprechen. Sie warnen davor, psychische Erkrankungen pauschal mit Gewalttaten zu verknüpfen. Wie groß ist der tatsächliche Anteil psychisch Kranker an Gewaltverbrechen – und welche Medien- oder Justizversäumnisse verschärfen hier Vorurteile?
Bernhard Bogerts: 95 Prozent der psychisch Erkrankten leben gewaltfrei im Vergleich zu 98 Prozent der Normalbevölkerung. Die allermeisten psychisch Kranken weisen somit kein erhöhtes Aggressionsrisiko auf. Einige psychischen Störungen gehen jedoch mit einem leicht erhöhten Risiko einher wie schizophrene Psychosen, Suchtkrankheiten oder Verletzungen emotional relevanter (limbischer) Hirnstrukturen. Auch deshalb ist eine frühe fachärztliche Behandlung dieser Störungen wichtig. Häufige Medienberichte über psychisch kranke Amokläufer lassen rasch den Eindruck einer generellen Gefährlichkeit psychisch Kranker aufkommen, was aber nicht zutrifft. Versäumnisse der Justiz sehe ich nicht: die Frage, ob eine Straftat krankheitsbedingt war oder nicht wird in aller Regel in Gerichtsverfahren geklärt und bei der Urteilsfindung berücksichtigt.
LEADERSNET: Im Zeitalter von Verschwörungstheorien und Desinformation steigt die gesellschaftliche Polarisierung. Können neurobiologische Erkenntnisse helfen, Radikalisierungsprozesse besser zu verstehen und Präventionsstrategien zu entwickeln?
Bernhard Bogerts: Radikalisierungsprozesse gab es schon zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Sie sind den Bereichen der Normalpsychologie und Sozialwissenschaften zuzuordnen. Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz vergleichbarer unguter sozialer oder politischer Bedingungen sich bei weitem nicht alle davon Betroffenen radikalisieren. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass sich nur solche Personen radikalen Ideologien anschließen, bei denen aufgrund vorbestehender genetischer oder biografischer Disposition ohnehin schon ein höheres Aggressionsniveau vorliegt und die Ideologie – sei sie rechtradikal, linksradikal oder islamistisch – als Rechtfertigung zum Ausleben der Aggressionsneigung dient.
LEADERSNET: Seit Ihrer Zeit als Direktor der Magdeburger Universitätsklinik haben Sie Ermittlungsakten von Amokläufen wissenschaftlich ausgewertet. Was haben Ihre Untersuchungen über die neurobiologischen Gemeinsamkeiten von Amokläufern ergeben? Gibt es ein erkennbares Muster in den Hirnstrukturen oder -funktionen dieser Täter?
Bernhard Bogerts: Wir haben die Gerichtsakten und die darin enthaltenen psychiatrischen Gutachten in 44 Fällen von Amokläufen ausgewertet. Die Täter ließen sich in drei Gruppen einteilen: (1) 14 Jugendliche, die nach von Ihnen so empfundenen Demütigungen Rache an Mitschülern und Lehrern nehmen wollten; (2) 16 Personen mit einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis oft verbunden mit Alkoholismus, die unter dem Einfluss von Bedrohungs- oder Verfolgungswahn sich gegen vermeintliche Angreifer zur Wehr setzen wollten; (3) 14 Männer mittleren Alters mit paranoiden und dissozialen Persönlichkeitsanteilen. Bei diesen waren Tatmotive Wut, Hass und Rache nach empfundenen Kränkungen infolge längerer Konflikte in Familie oder am Arbeitsplatz. Mir sind nur drei Fälle von Hirnuntersuchungen von Amokläufern bekannt. Alle drei hatten Hirnschädigungen in limbischen Arealen des Schläfenhirns, die für die Kontrolle von Aggression wichtig sind. Drei Einzelfälle reichen aber zur Verallgemeinerung dieser Befunde nicht aus.
LEADERSNET: Wenn Sie jungen Psychiater:innen einen Rat geben könnten: Was sollte man nie vergessen, wenn man mit Menschen arbeitet, deren Realität sich radikal von der gesellschaftlichen Norm unterscheidet? Wenn Sie auf Ihre jahrzehntelange Forschung zurückblicken – was hat sich in Ihrem Blick auf den Menschen verändert? Und was würden Sie jungen Psychiater:innen heute als Warnung mitgeben?
Bernhard Bogerts: Mithilfe von auf Normalpsychologie basierenden Überlegungen lassen sich die klinisch bedeutsamsten psychischen Erkrankungen, das sind schizophrene Psychosen, bipolare Störungen, schwere Depressionen und Demenzen, nicht erklären. Psychische Störungen sind immer Hirnerkrankungen zu deren Verständnis neben psychodynamischen Gesichtspunkten eine detaillierte Kenntnis der Neurobiologie des Hirns erforderlich ist. Die mit erheblichen Realitätsstörungen einhergehenden Wahnsymptome sind, solange sie nicht erfolgreich medikamentös behandelt werden, unkorrigierbar – auch bei noch so intensiven verbalen Bemühungen der Therapeuten. Deshalb sollten Hinweise betroffener Patienten auf Fremd- oder Eigengefährdung unbedingt ernst genommen werden.
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