Am 23. Februar gingen die Deutschen zu den Urnen, nachdem die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im November letzten Jahres zerbrochen war. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte nach dem Austritt der FDP die Vertrauensfrage gestellt und verloren, was den Weg für Neuwahlen ebnete. Die Union, bestehend aus CDU und CSU, ging mit 28,5 Prozent als stärkste Kraft hervor, gefolgt von der AfD mit 20,8 Prozent und der SPD mit 16,4 Prozent.
Die Optionen zur Regierungsbildung waren anschließend überschaubar: Eine Koalition mit der AfD schloss die Union kategorisch aus, während es Schwarz-Grün neben einer Mehrheit auch an der Zustimmung der CSU gemangelt hätte. Also wurde auf die Konstellation hin verhandelt, die einst als Große Koalition bekannt war: Union und SPD würden aller Differenzen zum Trotz gemeinsame Sache machen müssen, um überhaupt eine Mehrheitsregierung zu bilden.
Großes Publikum im Paul-Löbe-Haus
Die mehrwöchigen Verhandlungen waren sowohl von inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten als auch einem gewissen Zeitdruck geprägt, da insbesondere die Zollpolitik von US-Präsident Donald J. Trump dieser Tage für weltumspannende Herausforderungen sorgt.
Am Mittwochnachmittag wurden endlich Ergebnisse präsentiert: Im platztechnisch ausgelasteten Berliner Paul-Löbe-Haus traten Friedrich Merz (CDU), Markus Söder (CSU), Lars Klingbeil und Saskia Esken (beide SPD) vor die Presse, um Details aus dem neuen Koalitionsvertrag – ein 144 Seiten starkes Dokument namens "Verantwortung für Deutschland" - vorzustellen.
Laut Vertragt erkennt die Koalition große geopolitische und gesellschaftliche Herausforderungen – vom Ukrainekrieg über wirtschaftliche Stagnation bis zur gesellschaftlichen Polarisierung. Ziel ist ein handlungsfähiger Staat, der Stabilität, Sicherheit und sozialen Zusammenhalt sichert. CDU, CSU und SPD bekennen sich zur Sozialen Marktwirtschaft, Reformorientierung und Verantwortung in der Mitte der Gesellschaft.
Nachfolgend ein grober Auszug mit ausgewählten Vorhaben in verschiedenen Sektoren:
Steuern
- Einkommensteuer: Senkung für kleine und mittlere Einkommen zur Mitte der Legislaturperiode. Die Schere zwischen Kinderfreibeträgen und Kindergeld soll verringert werden, der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende steigt.
- Körperschaftsteuer: Ab 2028 schrittweise Senkung um fünf Prozentpunkte.
- Gewerbesteuer: Der Mindesthebesatz steigt von 200 Prozent auf 280 Prozent. Maßnahmen gegen Scheinsitzverlagerungen und Steuerwettbewerb unter Kommunen sollen greifen.
- Stromsteuer: Senkung auf das EU-Mindestmaß für alle Verbraucher zur Entlastung – flankiert von niedrigeren Netzentgelten.
- Umsatzsteuer in der Gastronomie: Ab 2026 dauerhaft sieben Prozent für Speisen.
- Pendlerpauschale: Ab 2026 auf 38 Cent ab dem ersten Kilometer erhöht.
Wirtschaft und Innovation
- Ein Deutschlandfonds in Höhe von bis zu 100 Milliarden Euro soll Investitionen in Innovation, Mittelstand und strategische Technologien wie KI und Robotik fördern. Auch Startups und Scale-ups sollen profitieren, etwa durch vereinfachte Gründungsverfahren und digitale Verwaltung.
- Bürokratieabbau soll durch radikal vereinfachte Genehmigungsverfahren gewährleistet werden. Der Strompreis für die Industrie soll gesenkt, die Wasserstoffinfrastruktur ausgebaut und CCS-Technologie für industrielle Emissionen ermöglicht werden.
- Die Automobilindustrie wird technologieoffen unterstützt, inklusive steuerlicher Anreize für E-Fahrzeuge und Ausbau der Ladeinfrastruktur. Eine gesetzliche Quote für E-Mobilität lehnt die Koalition ab.
- Auch Raumfahrt, Luftfahrt und maritime Wirtschaft werden gezielt gestärkt, insbesondere im Hinblick auf strategische Autonomie und Wettbewerbsfähigkeit.
Arbeit und Soziales
- Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, wird eine zentrale "Work-and-Stay-Agentur" für ausländische Fachkräfte geschaffen. Anerkennungsverfahren sollen in maximal acht Wochen abgeschlossen sein, Arbeitgeber sollen stärker eingebunden werden.
- Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 Euro bis 2026 wird angestrebt - allerdings nicht gesetzlich verordnet, sondern über die unabhängige Mindestlohnkommission gesteuert.
- Soziale Leistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag sollen zusammengeführt und digitalisiert werden. Eine Kommission entwickelt Vorschläge zur umfassenden Vereinfachung und Entbürokratisierung des Sozialstaats.
- Das Bürgergeld wird zur "neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende" reformiert: Wer arbeiten kann, muss es tun – bei wiederholter Arbeitsverweigerung sind vollständige Leistungskürzungen möglich. Sanktionen sollen schneller greifen, Schonvermögen wird strenger gehandhabt.
- Die Frühstart-Rente sieht ab dem sechsten Lebensjahr monatlich zehn Euro in ein privates Altersvorsorgekonto vor, steuerfrei bis zur Rente. Aktivrente und bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten sollen freiwilliges Weiterarbeiten attraktiver machen.
Wohnen und Infrastruktur
- Planungs- und Genehmigungsprozesse für Bauprojekte werden radikal beschleunigt, inklusive Digitalisierung und einheitlicher Rechtsgrundlagen. Erörterungstermine sollen fakultativ, Ersatzneubauten ohne Planfeststellung möglich sein.
- Der soziale Wohnungsbau wird ausgeweitet, Milieuschutzregelungen gestärkt. Kommunen erhalten verbesserte Vorkaufsrechte und Möglichkeiten zur Sicherung bezahlbaren Wohnraums.
- Mit Gebäudetyp E, modularen Bauformen und neuen Förderprogrammen will die Koalition schnell und günstig neuen Wohnraum schaffen. Eigentumsbildung wird durch "Starthilfe"-Programme und KfW-Garantien gefördert.
Klima, Energie, Umwelt
- Ein schneller Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft soll Deutschland dekarbonisieren und Industrieprozesse zukunftsfähig machen. CCS wird für schwer vermeidbare Emissionen ermöglicht, Strompreise für die Industrie gesenkt.
- Klimaschutzverträge, Leitmärkte für CO₂-arme Produkte und internationale Quotenregelungen sollen den ökologischen Wandel marktwirtschaftlich absichern. Carbon-Leakage soll durch ein effektives CBAM verhindert werden.
- Der Kohleausstieg bis spätestens 2038 bleibt bestehen, soll aber flexibel gestaltet werden. Rohstoffstrategie, Recycling und Kreislaufwirtschaft stehen im Zentrum der Resilienz- und Autonomiestrategie.
Sicherheit, Migration, Außenpolitik
- Deutschland investiert in militärische Fähigkeiten und steht fest an der Seite der Ukraine. Die Sicherheitsarchitektur soll europäisch gedacht und verteidigungsfähig gemacht werden.
- Migration wird restriktiver geregelt: Grenzen sollen besser geschützt und Rückführungen beschleunigt werden. Arbeitsverbote für Geflüchtete werden auf drei Monate begrenzt, allerdings nicht für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten oder sogenannte "Dublin-Fälle". Wer nicht bleiben darf, soll konsequent zur Ausreise verpflichtet werden.
- Gleichzeitig soll legale Zuwanderung erleichtert und mit Integrationsangeboten verknüpft werden. Ein "bedarfsorientiertes Berufssprachkurs-Angebot" wird dauerhaft gesichert, das Once-Only-Prinzip soll Verwaltung vereinfachen.
- Die China-Strategie wird neu ausgerichtet, kritische Abhängigkeiten sollen systematisch erfasst und reduziert werden. Außenwirtschaftsgesetz und Investitionsprüfungen werden verschärft, um Sicherheit und wirtschaftliche Souveränität zu gewährleisten.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt
- Die Gleichstellung der Geschlechter wird zum Querschnittsziel erklärt – auch mit Blick auf Führungspositionen, Lohnlücken und Teilhabe. Familien mit niedrigem Einkommen sollen durch gezielte Entlastungen unterstützt werden.
- Die Inklusionspolitik wird neu ausgerichtet: Mehr Barrierefreiheit, vereinfachter Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung und eine Reform der Werkstätten sind angedacht. Ein Bundeskompetenzzentrum für leichte Sprache und Gebärdensprache wird aufgebaut.
- Das Deutschlandticket soll erhalten bleiben, preislich stabil sein und flächendeckend anerkannt werden. Ziel ist eine dauerhafte Verankerung im ÖPNV-Tarifsystem, auch als Impuls für eine Verkehrswende.
- Cannabisgesetz: Die derzeitige gesetzliche Regelung zum kontrollierten Eigenanbau und Besitz bleibt vorerst bestehen, wird jedoch evaluiert. Je nach Ergebnissen soll über Anpassungen entschieden werden – sowohl in Bezug auf Gesundheitsschutz als auch auf Jugendprävention und Kriminalitätsentwicklung.
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