LEADERSNET: Ihr Vater ist Unternehmer, Sie selbst waren lange Zeit überzeugt, nie zu gründen – und doch sind Sie heute Unternehmerin. Was hat Sie umdenken lassen?
Lia Grünhage: Ich habe in meiner Kindheit und Jugend erlebt, welche Verantwortung diese Form der Arbeit mit sich bringt und insbesondere, welche immense Disziplin sie erfordert, wenn es nicht gut läuft. Gleichzeitig habe ich bei Amorelie als CMO und wenig später als Teil der Geschäftsführung festgestellt, wie viel Freude es mir macht, Unternehmen zu bauen und meine Ideen in und durch sie zu verwirklichen – vor allem solche, die dazu beitragen möchten, etwas in unserer Gesellschaft zu verändern.
LEADERSNET: Mit Ten More In setzen Sie sich ganz konkret für mehr Frauen in Führungspositionen ein. Was war der Auslöser für die Gründung?
Lia Grünhage: Meine Mitgründerin Lea-Sophie Cramer und ich haben bei Amorelie die Erfahrung gemacht, wie transformativ exzellentes Executive-Coaching sein kann, wenn es von wirklichen Koryphäen geleitet wird. Bei mir hatte es den Effekt, dass ich dasselbe Pensum stemmen konnte, aber mit wesentlich weniger Kraftaufwand. Anfang 2022 machte dann das Bild von der Münchner Sicherheitskonferenz die Runde, das verdeutlichte: Wir sitzen noch nicht mal mit am Tisch. Das Bild ist das Endergebnis – das Problem beginnt viel früher.
Lea und ich haben immer wieder beobachtet, dass Frauen nicht so proaktiv in Führung gehen bzw. nicht so lange in Führungspositionen bleiben. Und dahinter stecken immer wieder dieselben Verhaltensmuster: Frauen zweifeln tendenziell stärker an der eigenen Leistung, schlichten Konflikte eher, als dass sie bei ihrer Position bleiben und vermarkten ihre Erfolge weniger offensiv. Unsere Schlussfolgerung: Um an diesen Herausforderungen zu arbeiten, muss exzellentes Coaching leichter zugänglich und skalierbar werden. Genau deshalb haben wir zusammen Ten More In gegründet.
LEADERSNET: Was verstehen Sie persönlich unter "Female Leadership" – jenseits von Quoten und Gleichstellungsdebatten?
Lia Grünhage: Female Leadership schafft echten Mehrwert – politisch, gesellschaftlich und, nicht zuletzt, ökonomisch. Sobald Frauen in Entscheidungsgremien mitgestalten, verändert sich die Arbeitskultur: Gespräche werden offener, Informationsflüsse durchlässiger, und Entscheidungen beruhen auf mehr Perspektiven. Dieser qualitative Unterschied schlägt sich messbar nieder – Unternehmen mit gemischten Führungsteams arbeiten profitabler, performen nachhaltiger und sind nachweislich innovativer. Zugleich stärkt echte Teilhabe das demokratische und gesellschaftliche Gefüge. Mit anderen Worten: Female Leadership ist ein Wachstums- und Zukunftsmotor, nicht nur ein Symbol für Gleichstellung.
LEADERSNET: Der Markt für Female Empowerment wächst stetig. Wie gelingt es Ihnen, mit Ten More In ein Angebot zu schaffen, das sich wirklich abhebt?
Lia Grünhage: Ten More In unterscheidet sich in drei Punkten fundamental von anderen Anbietern. Erstens: Unsere Programme stammen aus einer Co-Kreation von Lea-Sophie Cramer, mir und drei der angesehensten Executive-Coaches Deutschlands. Damit bekommen Teilnehmerinnen Zugang zu Strategien und Tools, die man sonst nur in exklusiven One-on-One-Coachings bekommt.
Zweitens: Wir arbeiten mit der eigens entwickelten Mirror-Coaching-Methode. In echten Coaching Settings spiegeln die Coaches den Teilnehmerinnen ihr Verhalten so unmittelbar, dass blinde Flecken sofort sichtbar und neue Verhaltensstrategien entwickelt werden können – ein Lerneffekt, den reine Online-Kurse oder Vortragsformate nicht erreichen.
Drittens: Die Teilnehmerinnen lernen in der Gruppe und profitieren von ihren gegenseitigen Erfahrungen – der Effekt des sozialen Lernens ist nicht zu unterschätzen. Wir Menschen sind Herdentiere: Früher sicherte die soziale Bindung das Überleben und so wollen Menschen noch heute zur Gruppe gehören. Wenn wir feststellen, dass wir mit unseren Themen nicht allein sind und es anderen auch so geht, beruhigen wir uns und können effektiver Lösungen finden.
LEADERSNET: Und wie geht es nach dem Programm für die Teilnehmerinnen weiter?
Lia Grünhage: Der Nutzen endet nicht, wenn das Programm abgeschlossen ist. Bereits 1.700 Alumnae aus rund 900 Unternehmen bilden ein lebendiges Netzwerk, das Erfahrungen teilt, Mentoring bietet und Türen in neue Organisationen öffnet. Die Kombination aus erstklassiger Expertise, einer hochwirksamen Lernmethode und einem starken, dauerhaft wirksamen Netzwerk verschafft uns ein klares Alleinstellungsmerkmal.
LEADERSNET: Wie verteilen sich die Rollen bei Ten More In – zwischen Ihnen, Lea-Sophie Cramer und dem Team?
Lia Grünhage: Lea und ich haben Ten More In vor drei Jahren mit der klaren (über viele Jahre bei Amorelie erprobten) Rollenverteilung gestartet: Lea als Außen- und ich als Innenministerin. Mit dem Erfolg und Wachstum des Unternehmens hat sich auch unser Leadership-Ansatz und unser Führungsteam entwickelt. Im Oktober 2023 ist Helena Meyer-Schönherr Teil der Geschäftsführung geworden, wir führen das Unternehmen heute zu dritt. Insgesamt umfasst das Ten More In Team rund zehn Mitarbeitende, die dafür sorgen, dass unsere "Classes" einwandfrei laufen, unser Netzwerk aktiv ist, mehr Menschen auf Ten More In aufmerksam werden und wir neue Inhalte und Produkte entwickeln.
LEADERSNET: Wie entwickelt sich Ten More In wirtschaftlich – und wie gelingt Ihnen der nächste Skalierungsschritt?
Lia Grünhage: Ten More In ist ein bootstrapped Business. Wir treiben unser Wachstum aus eigenen Mitteln und haben uns bisher gegen externes Kapital entschieden. Unsere Umsätze liegen im 7-stelligen Bereich und wir sind profitabel. Unser nächster Wachstumsschub wird unter anderem über neue Inhalte kommen: Erstens werden wir das neue Programm "Sichtbarkeit & Positionierung" launchen: Dabei geht es darum, Frauen zu unterstützen, im eigenen Unternehmen, im Team und am Entscheidungstisch deutlich wahrgenommen zu werden. Klare Positionierung und sichtbare Präsenz entscheiden darüber, welche Projekte, Führungsaufgaben und Verantwortung einem zugetraut werden.
Zudem starten wir ein Programm zum Thema "Vereinbarkeit". Genau wie bei unseren ersten beiden Programmen schauen wir uns die häufigsten Herausforderungen und Hürden an, denen Mütter, Eltern und Unternehmen begegnen, wenn es darum geht, Beruf und Familie zusammenzubringen. Durch unsere Methoden können wir neue Perspektiven und Lösungsstrategien anbieten, sodass niemand bei null anfangen muss. So erschließen wir neue Themenfelder, vergrößern unsere Reichweite und skalieren, ohne an inhaltlicher Tiefe einzubüßen.
LEADERSNET: Sie setzen stark auf individuelle Weiterentwicklung. Warum sehen Sie Selbstwirksamkeit als zentralen Hebel für Veränderung?
Lia Grünhage: Es ist für uns der zentrale Hebel, weil wir hier durch persönliche Weiterentwicklung ein Angebot machen können, das Frauen unterstützt, effektiver zu führen. Das ist unsere Kernkompetenz. Gleichzeitig gibt es systemische Strukturen, die verhindern, dass wir mehr Frauen in Führung sehen. Diese gilt es ebenso zu bearbeiten und Stück für Stück aufzulösen. Wir leisten hierzu beispielsweise über unsere Stiftung einen Beitrag, an die wir seit Tag eins ein Prozent unserer Umsätze spenden.
LEADERSNET: Schon vor Ten More In haben Sie Avery Fertility gegründet – mit dem Ziel, Aufklärung und Zugang zur Reproduktionsmedizin neu zu denken.
Lia Grünhage: Bei Amorelie habe ich miterlebt, wie viel gesellschaftliche Veränderung möglich ist, wenn man ein Tabuthema mit Unternehmergeist, Aufklärung und Mut neu denkt. Diese Erfahrung hat mich geprägt: Ich habe gesehen, was es bewirken kann, wenn Produkte und Kommunikation echte Lücken schließen. Mit Avery Fertility wollte ich genau das weiterführen: Aufklärung schaffen und Zugänge erleichtern, diesmal im Bereich der Reproduktionsmedizin.
In einer Zeit, in der wir immer später Eltern werden und unsere Körper diese Veränderung nicht einfach mittragen, fehlt meines Erachtens bis heute das Wissen in unserer Gesellschaft für die potenzielle Herausforderung, die das mit sich bringt. Wir wollten ein Angebot schaffen, das das ändert und mussten gleichzeitig feststellen, dass wir kein nachhaltiges Geschäftsmodell aufbauen konnten.
LEADERSNET: Wenn Sie auf Ihre unternehmerische Reise zurückblicken – wie hat sich Ihr Blick auf Unternehmertum in den letzten zehn Jahren verändert?
Lia Grünhage: Es ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Ich gehe beim Arbeiten gerne über meine eigenen Grenzen hinaus und das ist phasenweise auch total okay, vielleicht sogar notwendig. Aber wenn ich Auto fahre, passe ich, sobald die Reservelampe angeht, eben auch die nächste Tankstelle ab und versuche nie mit leerem Tank zu fahren – weil es faktisch nicht geht.
LEADERSNET: Individuelles Engagement reicht oft nicht aus – was müsste aus Ihrer Sicht politisch passieren, damit strukturelle Veränderungen wirklich gelingen?
Lia Grünhage: Meines Erachtens liegt ein großer politischer Hebel, um strukturelle Veränderungen voranzubringen und langfristig mehr Frauen in Führungspositionen zu sehen, in unserer Familienpolitik. Rund 70 Prozent der Mütter arbeiten in Teilzeit und nur etwa acht Prozent der Väter – in der Regel geht es hier um entscheidende Jahre, in denen Karriere gemacht wird oder eben nicht.
Und offensichtlich können Männer hier mehr Zeit in ihre berufliche Entwicklung investieren als Frauen. Ich möchte niemandem die Entscheidung absprechen, Voll-, Teilzeit oder gar nicht zu arbeiten. Allerdings ist unsere Familienpolitik aktuell so gestrickt, dass sie begünstigt, dass Frauen nach der Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr voll ins Berufsleben einsteigen. Das Ehegattensplitting belohnt ökonomisch das Modell "ein Verdiener, ein Zuverdiener".
Auch Elterngeld und Elternzeit setzen den Anreiz, dass der Hauptverdiener – meistens der Vater – weiterarbeitet. In beiden Fällen werden politisch alte Rollenmuster verfestigt. Durch eine Reformierung des Elterngeldes und Ehegattensplittings, zum Beispiel durch verpflichtende Vätermonate, volle Ausschöpfung des Elterngeldes nur bei gleichmäßiger Aufteilung, individuelle oder familienbezogene Besteuerung oder auch eine Deckelung des Steuervorteils, wenn das Einkommen sehr ungleich verteilt ist, würden finanzielle Fehlanreize abgebaut und beide Elternteile darin bestärkt, Erwerbs- und Care-Arbeit gleichermaßen zu übernehmen.
LEADERSNET: Was treibt Sie persönlich an, immer wieder neue unternehmerische Wege zu gehen?
Lia Grünhage: Was mich antreibt, ist die Vorstellung einer Welt, in der Frauen genauso viel Gestaltungsmacht haben wie Männer. Solange das noch nicht Realität ist, will ich meine Zeit so einsetzen, dass sie diesem Ziel wirklich dient. Darum stecke ich mein unternehmerisches Herzblut in Ten More In: Jede Teilnehmerin, die bei uns sichtbar wird, Führung übernimmt und wiederum andere Frauen ermutigt, verschiebt das Kräfteverhältnis ein kleines Stück nach vorn. Zu erleben, wie sich dieser Hebeleffekt Tag für Tag vergrößert, ist meine stärkste Motivation.
LEADERSNET: Was möchten Sie der nächsten Generation von Gründer:innen und Führungskräften mit auf den Weg geben?
Lia Grünhage: Wartet nicht auf die perfekte Gelegenheit – weder für den großen Auftritt noch für die nächste Karrierestufe oder eure eigene Gründung. Viele von uns versuchen, alles erst bis ins Detail auszufeilen, bevor wir den Vorhang öffnen. Dieser Perfektionismus soll Sicherheit geben, macht uns aber letztlich unsichtbar. Meine Coachin Melanie Frowein hat es einmal treffend formuliert: "Veränderung entsteht erst im Tun." Also: Bereitet euch solide vor, ja – aber zieht die Linie und geht dann den Schritt.
LEADERSNET: Wenn Sie auf die kommenden fünf Jahre blicken – wie sieht Ihre Vision für Ten More In aus?
Lia Grünhage: Derzeit ist es so, dass Frauen weltweit fast die Hälfte der Einstiegspositionen in Unternehmen besetzen, jedoch weniger als ein Viertel der C-Level Rollen. Behalten wir dieses Tempo bei, wird echte Geschlechterparität in der Führungsebene erst in mehr als einem Jahrhundert Realität werden. Meine Vision für die nächsten fünf Jahre ist, diese Entwicklung spürbar zu beschleunigen.
Mit Ten More In arbeiten wir dafür, dass zukünftige Führungsebenen das Verhältnis von Männern und Frauen in der Stärke widerspiegeln, in der die vertretene Menschheit sie vorgibt. Wir konzentrieren uns auf den Hebel, den wir direkt bewegen können: Frauen dabei unterstützen, ihre eigenen Stärken zu entfalten, Blockaden abzubauen und den Schritt in verantwortliche Positionen zu gehen – und zwar in deutlich größerer Zahl und schneller, als es die Statistik heute vermuten lässt.
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