Carlo Acutis ist tot – und lebt dennoch in Millionen Devotionalien weiter: Der 2006 verstorbene italienische Teenager wird heute offiziell von Papst Leo XIV. heiliggesprochen. Damit avanciert er zum ersten Heiligen aus der Generation der Millennials und zu einer medienwirksamen Figur einer strategisch agierenden römisch-katholischen Kirche. Die Gläubigen feiern, der Handel boomt – und kritische Stimmen werden lauter.
"Influencer Gottes" als strategische Figur
Mit T-Shirt, Jeans und Sneakers auf kirchlicher Mission: Carlo Acutis war ein IT-affiner Jugendlicher, der als Schüler Webseiten für Kirchenprojekte gestaltete, Videos über den Glauben produzierte und eine Datenbank angeblicher Wundererzählungen kuratierte. Er verband technisches Know-how mit spirituellem Eifer – eine Kombination, die die Kirche heute als perfekte Synthese von Tradition und Moderne inszeniert.
Heute wird er als "Cyber-Apostel" verehrt, seine Heiligsprechung auf dem Petersplatz zieht über 100.000 Gläubige und Tourist:innen an. Für die römisch-katholische Kirche, die mit sinkenden Mitgliederzahlen und zunehmender Entfremdung junger Menschen konfrontiert ist, ist Acutis ein Hoffnungsträger. Mit seiner klaren, aber jugendlichen Sprache und seiner Online-Aktivität verkörpert er ein neues Bild von Frömmigkeit.
Carlo, Sohn eines Mailänder Finanzmanagers, wurde in London geboren, empfing mit sieben Jahren die Erstkommunion und träumte laut Überlieferung davon, Priester zu werden. Als er im Oktober 2006 an aggressiver Leukämie verstarb, begann die Kirche schnell mit dem Verfahren zur Heiligsprechung. Unterstützt von seinen Eltern und befördert durch Wunderberichte aus Brasilien und Costa Rica, wurde der Prozess ungewöhnlich zügig vorangetrieben – ein Umstand, der selbst im Vatikan als bemerkenswert gilt.
Heiligenkult als Geschäftsmodell
In Assisi, wo auch der berühmte Namensvetter Franz von Assisi liegt, boomt das Geschäft mit Acutis-Devotionalien: Souvenirshops verzeichnen teils höhere Verkaufszahlen als mit Franziskus-Artikeln. T-Shirts, Rosenkränze, Medaillons und sogar lebensgroße Carlo-Figuren für bis zu 5.000 Euro sind gefragte Produkte. Auch digital läuft der Markt: Angebliche Reliquien – etwa eine Locke – wurden online bereits für über 2.000 Euro angeboten, was den zuständigen Bischof zur Anzeige veranlasste.
Der Kommerz hat längst die Kirchenmauern verlassen: Auf TikTok, Instagram und YouTube kursieren Videos, in denen Gläubige Carlo Acutis als Vorbild für ein reines Leben im digitalen Zeitalter preisen. Hashtags wie #CarloAcutis oder #SaintOfTheInternet verzeichnen Hunderttausende Aufrufe. Sogar in katholischen Schulen weltweit wird er bereits in den Religionsunterricht integriert – inklusive Arbeitsblättern und eigenen Online-Modulen.
Selbst in der Wallfahrtskirche Santa Maria Maggiore in Assisi, wo Acutis’ Körper in einem gläsernen Sarkophag ausgestellt ist, werden Figuren und Mitbringsel verkauft. Der "Heilige in Sneakers" wird zum kommerziellen Symbol der Verbindung von Glauben und Gegenwart – visuell immer gleich: braune Locken, rotes Polohemd, Jeans, Turnschuhe. Inzwischen existieren sogar internationale Pilgerreisen unter seinem Namen.

Zweifel an der Frömmigkeit
Doch nicht alle sind überzeugt vom Heiligenschein: Einer der engsten Schulfreunde von Acutis, Federico Oldani, äußerte gegenüber "The Economist" Zweifel an der spirituellen Tiefe seines Freundes. "Wir haben nie über Jesus gesprochen", sagte er. Auch legendäre Aussagen wie "Die Eucharistie ist meine Autobahn in den Himmel" habe er nie von Acutis selbst gehört. Kritiker:innen werfen der Kirche vor, einen Mythos zu konstruieren – nicht zuletzt, um ein medienwirksames Gegengewicht zum Imageverlust in der westlichen Welt zu schaffen.
Andere Beobachter:innen gehen noch weiter und sprechen von einer "Instrumentalisierung eines Jugendlichen". Der Theologe Andrea Grilli sagte in einem Interview, Acutis werde in eine Rolle gedrängt, die ihm womöglich nie entsprochen habe: „Er war sicher gläubig, aber nicht der digitale Prophet, zu dem man ihn nun stilisiert.“ Auch aus theologischer Sicht wird diskutiert, ob die schnelle Heiligsprechung einem spirituellen Prüfmaßstab genügt.
Wie ntv berichtet, ist die Entscheidung zur Heiligsprechung auch ein Signal: In einer digital geprägten Welt setzt die katholische Kirche verstärkt auf Identifikationsfiguren mit zeitgemäßem Profil – mit unübersehbarem kommerziellem Potenzial. Ob Carlo Acutis dabei wirklich Vorbild war oder zur Projektionsfläche wurde, bleibt offen – aber seine Wirkung ist bereits global.
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