Norm, Stress und Umsatz mit Botox, Fillern und Kosmetik
Wie sich Schönheit rechnet – und der Milliardenmarkt weiter wächst

| Redaktion 
| 04.11.2025

Noch vor dem ersten Kaffee läuft bei den meisten von uns die Routine an: reinigen, cremen, massieren, föhnen, schminken. Wer Sport treibt, tut es nicht selten auch fürs Spiegelbild. Im modernen Sprachgebrauch heißt das aesthetic labour – Arbeit am eigenen Erscheinungsbild. Der Begriff klingt nüchtern, macht aber etwas Grundsätzliches sichtbar: Schönheit wird produziert, planbar, in kleinen Schritten und wiederkehrenden Zahlungen.

Eine internationale Studie mit mehr als 93.000 Befragten aus 93 Ländern beziffert diesen Aufwand für Schönheit auf knapp vier Stunden pro Tag – eingerechnet sind Pflege, Make‑up, Frisieren und Sport, wenn er des Aussehens wegen betrieben wird. Das ist keine Marotte Einzelner, sondern eine globale Praxis mit spürbaren Folgen für Zeitbudgets, Geldbeutel und Erwartungen.

Wo so viel gearbeitet wird, entsteht ein Markt. Die Schönheitsindustrie – ohne Wellness gerechnet – ist heute Schätzungen von McKinsey zufolge rund 580 Milliarden US‑Dollar schwer; bis 2027 wird ein Wachstum um etwa sechs Prozent erwartet. Damit spielt die Branche in einer Liga mit Öl, Gas oder Auto – nur mit besseren Wachstumsaussichten. Diese Ökonomie lebt von Routinen: Cremes werden nachgekauft, Geräte upgegradet, Behandlungen wiederholt. Schönheit wird zur Monatsrate, zur planbaren Fixgröße.

Parallel steigt die Zahl der Schönheitseingriffe: Innerhalb von vier Jahren um mehr als 40 Prozent – weltweit, wie es in der aktuellen Titelstory im Spiegel heißt. Deutschland rangiert im europäischen Vergleich an der Spitze. Die Bestseller der Praxen lesen sich nüchtern: Brust‑OPs, Botox, Oberlid‑Korrekturen, Filler. Eine umfassende Filler‑Behandlung – etwa Lippen, Kinn, Tränenrinne – plus Botox in Stirn und Zornesfalte kostet bei seriöser medizinischer Praxis rund 2.500 Euro. Das ist nicht Luxus, sondern für viele die neue Basis.

@aesthetify.de So emotionsvoll und erleichternd kann eine Nasenkorrektur sein! (Educational purposes) Dank solcher Patienten/innen werden wir immer wieder aufs Neue daran erinnert, warum unsere Arbeit so schön ist! #nosefiller #nasenkorrektur #chinfiller #emotions #happypatient ♬ Originalton - DR.RICK & DR.NICK

Es gibt nichts was es nicht gibt

Um der Nachfrage zu entsprechen bringt die Industrie immerneue Tools hervor. Für zu Hause: LED‑Gesichtsmasken. In der Praxis: Radiofrequenz‑Microneedling für Kollagen, Polynukleotid‑Injektionen – umgangssprachlich als "Lachssperma" vermarktet – zur den richtigen Glow auf der Haut. Dazwischen allerlei Gesichtsgurte und Hightech‑Gadgets. Der Fortschritt ist verlockend, die Evidenz je nach Verfahren unterschiedlich robust. Entscheidend ist weniger die nächste Neuheit als die Regelmäßigkeit. Denn was wirkt, will meist wiederholt werden.

Mit jedem neuen Tool verfestigt sich eine Norm: Pflege ist nicht nur Privatvergnügen, sondern gesellschaftliche Erwartung. Wer mithalten will, plant am besten gleich monatliche Budgets für Körpertuning und Anti‑Aging ein – so die Logik eines Marktes, der Kontinuität belohnt. Und wer es sich nicht leisten kann oder will, fällt unangenehm auf. Ökonom:innen sprechen vom "Beauty‑Premium" – spürbare Vorteile für Gepflegte – und von der Kehrseite, einer "Grooming‑Gap": Nachteile, die entstehen, wenn der Standard unerreichbar wird.

Der Gleichklang der Gesichter

Auffällig dabei ist auch, wie sehr sich die getunten Gesichter immer mehr ähneln. Trotz Body‑Positivity und Diversity scheint sich eine Gleichförmigkeit durchzusetzen. Nasen werden in ähnliche Formen operiert, Lippen folgen einem vertrauten Ideal, Konturen werden vereinheitlicht. Filter und Eingriffe verstärken sich – das ästhetische Zielbild liegt auf dem Display. Wie wir auszusehen haben, das können wir erahnen, wenn wir unser Bild durch die Fotofilter in den Smartphones jagen.

 
 
 
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Klar, man kann all das als Selbstfürsorge lesen: Wer sich um seinen Körper kümmert, fühlt sich meist besser. Und vieles ist harmlos, solange es informiert geschieht und medizinische Standards gelten. Doch mit dem Wachstum der Branche wächst auch die Verbindlichkeit. Aus freiwilliger Optimierung wird eine Art Pflichtprogramm – nicht durch Gesetze, sondern durch Blicke, Algorithmen, Vergleiche.

Die Frage ist weniger moralisch als praktisch: Wie viel Zeit, wie viel Geld, wie viel Technik braucht es, um „akzeptabel“ zu wirken? Wann kippt Pflege in Druck – und wer definiert die Schwelle? Die Industrie liefert verlässliche Antworten in Produktform; die gesellschaftliche Antwort steht aus.

Fix ist jedenfalls, dass der Markt weiterwächst. Zu stark ist der Anreiz, zu groß die Zahl der Anbieter, zu wirksam die Routinen. Und am Ende bleibt "aesthetic labour" ein treffender Begriff, für harte Arbeit, im Bad, im Studio und beim Beauty-Doc. Man kann sie lieben oder ablehnen. Aber man sollte wissen, dass sie Arbeit ist – und was sie kostet.

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