Offene Bayern, neurotische Berliner, gestresste Rheinländer

| Redaktion 
| 31.08.2023

Forscher der geografischen Psychologie beschäftigen sich damit, ob Einwohner unterschiedlicher Regionen und Landschaften systematische Charakterunterschiede aufweisen.

Welche Umgebung passt zu mir? Wo fühle ich mich wohl? Und wie hängt das mit den Menschen in dieser Region zusammen? Diese Fragen stellen sich viele. In den letzten Jahren haben Experten auf dem Gebiet der geografischen Psychologie nach systematischen Unterschieden in der Verteilung von Persönlichkeitseigenschaften zwischen Stadt- und Landbewohnern, Nord- und Südregionen, Ost- und Westgebieten sowie den Anwohnern von Küstengebieten und Bergregionen gesucht. Die Ergebnisse zeigen, dass tatsächlich an manchen Orten signifikant mehr gesellige, gewissenhafte, offene oder extrovertierte Menschen leben als anderswo (wenngleich nicht so eindeutig, wie in dem überspitzt formulierten Titel). Mit anderen Worten: Die Mentalitätsunterschiede zwischen verschiedenen Landesteilen oder Regionen basieren demnach nicht nur auf populären Vorurteilen.

Mehr Extrovertierte in Großstädten, weniger Neurotiker zwischen Köln und München

Eine im Jahr 2019 veröffentlichte Studie, durchgeführt von Psychologen unter der Leitung von Martin Obschonka, der damals an der Queensland University of Technology in Australien tätig war, wertete Daten von über 70.000 Deutschen aus, die online einen Persönlichkeitstest gemacht haben. Anhand der Antworten lassen sich individuelle Profile der fünf großen Persönlichkeitsdimensionen erstellen: Extraversion (Geselligkeit), Offenheit für neue Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Neurotizismus (emotionale Labilität). Das Team um Obschonka fand heraus, dass in Großstädten im Durchschnitt tatsächlich mehr extrovertierte Menschen leben als auf dem Land. Südlich einer imaginären Linie zwischen Köln und München ist der Neurotizismus, also die Tendenz zu Ängstlichkeit und Stimmungsschwankungen, im Schnitt weniger ausgeprägt.

Geselliges Süddeutschland

Es gibt auch Hinweise darauf, dass Menschen im Süden Deutschlands im Vergleich zu den Bewohnern des Nordens etwas offener sind. Forscher in den USA haben herausgefunden, dass Städte oder Gemeinden mit einer überdurchschnittlich jungen Bevölkerung höhere Werte für Offenheit aufweisen. In Gebieten mit hoher Kriminalitätsrate sind die Bewohner im Durchschnitt eher verschlossen und weniger verträglich.

Auch Migrationsströme beeinflussen die Persönlichkeitsdimensionen. Zum Beispiel ziehen aus ökonomisch weniger gut gestellten, ländlichen Gebieten vermehrt extrovertierte und ehrgeizige Menschen weg.

Umweltbedingungen wie Bevölkerungsdichte (Stadt vs. Land) und Topografie (Flachland vs. Berge) spielen ebenfalls eine Rolle dabei, welche Mentalitäten in verschiedenen Ländern oder Regionen vorherrschen. Unterschiedliche Studien haben ergeben, dass Bewohner von Küstengebieten offener sind als Menschen in gebirgigen Regionen. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass es im Flachland möglicherweise einfacher ist, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen als in unwegsamem Gelände. Zudem zeigen Arbeiten zur lokalen Klimatologie, dass in Gebieten mit mildem Klima der Neurotizismus weniger ausgeprägt ist, während Verträglichkeit, Offenheit und Extraversion stärker vertreten sind.

Die Kraft der sozialen Ansteckung

Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Phänomen der sozialen Ansteckung. Das bedeutet, dass viele Einstellungen, Eigenschaften und Stimmungen innerhalb von Familien, Freundeskreisen und Nachbarschaften übertragen werden. Menschen interagieren tendenziell stärker mit denen, die ihre Ansichten und Vorlieben teilen. Dadurch kommt es zu einer allmählichen Angleichung und letztendlich Homogenisierung der Persönlichkeiten. Wenn sich organisierte Strukturen bilden – wie Selbsthilfegruppen in Gebieten mit hoher Kriminalität oder Theater und Ateliers in Gegenden, in denen viele kreative Menschen leben –, können sich diese "Hotspots" weiter verstärken.

Insgesamt scheint es, dass unsere psychologische Entwicklung stark von unserer Umgebung geprägt wird. Die Unterschiede mögen nicht riesig sein, aber sie sind laut den Studienergebnissen recht stabil.

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